1200 Jahre – Schlins, Nenzing, Schnifis, Nüziders, Bürs

„Es handelt sich um einen kurzen Lichtblick in einer relativ dunklen Zeit”, erklärt der Leiter des Stiftsarchivs St. Gallen, Dr. Peter Erhart. Es grenzt an ein Wunder, dass 27 Urkunden über private Geschäfte eines hohen Beamten der damaligen Zeit – des Schultheiß Folcwin – im Archiv des Klosters 1200 Jahre überdauert haben. Sie geben Einblick in das Leben der Menschen im frühmittelalterlichen Walgau und belegen, dass die Orte Schlins, Nenzing, Schnifis, Nüziders und Bürs bereits in dieser Zeit existierten. Zum Vergleich: Österreichs Ersterwähnung war im Jahr 996, also mehr als 170 Jahre später. 

FOTOS: TM-HECHENBERGER, STIFTSARCHIV ST. GALLEN

„Folcwin ist den Forschern an der Universität Oxford ebenso ein Begriff wie in Los Angeles”, zeigt Dr. Peter Erhart die internationale Bedeutung jenes Schatzes auf, den er im Stifts­archiv hütet. Die rund 900 frühmittelalterlichen Urkunden, die das Kloster insgesamt verwahrt, wurden 2017 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe erklärt. „Doch die 27 Folcwin-Urkunden hätten auch alleine ein solches Label verdient.” Dr. Erhart hat sich bereits während seines Studium mit dem Nachlass des Schultheiß Folcwin beschäftigt. Der hatte als hochrangiger Beamter im Walgau des 9. Jahrhunderts einiges zu sagen. „Es war eine unruhige Zeit damals”, berichtet Dr. Erhart. Kaiser Karl der Große hatte ein paar Jahre zuvor den Churer Bischof entmachtet, der bis dahin in ganz Churrätien kirchliche und weltliche Macht ausübte. Dieses Gebiet umfasste Teile des heutigen Graubünden und des St. Galler Rheintals, Liechtenstein,  den Walgau inklusive Rankweil, das Große Walsertal, das Montafon, das Klostertal und den Vinschgau. Karl der Große und sein Nachfolger Ludwig der Fromme setzten stattdessen auf eine weltliche Grafschaftsverwaltung. Das brachte mit sich, dass dem Bistum Chur etliche Besitztümer und beispielsweise auch die Rechtssprechung entzogen wurden.

„Folcwin ist schuld, dass ich heute hier sitze.” – Dr. Peter Erhart hat sich schon während seines Studiums intensiv mit dem Nachlass aus dem frühen Mittelalter befasst. Der gebürtige Satteinser leitet seit 2009 das Stiftsarchiv St. Gallen. Er gehört zu den weltweit rund hundert Experten für das Frühmittelalter.

Graf Hunfrid verwaltete im Auftrag des Kaisers die „Vallis Drusiana” – also jene Gegend, die ungefähr den Bereich von Götzis bis hin zum Arlberg umfasste. Diesem Amtsträger war der Beamte Folcwin direkt unterstellt. Von seinem Amtssitz in Rankweil aus hatte der Schultheiß Recht zu sprechen, die Abgaben der Untertanen einzuheben und für Ruhe zu sorgen. Diese Position scheint er genutzt zu haben, um sich selbst zu bereichern. Bei den 27 Urkunden, die im Besitz des Klosters St. Gallen sind, handelt es sich nämlich durchwegs um Kauf- beziehungsweise Schenkungsverträge. Weil diese aber äußerst detailreich beschreiben, wie der Besitz aussah, was dort angebaut wurde und wer nebenan wohnte, geben diese Dokumente wichtige Einblicke in eine Zeit, über die sonst wenig bekannt ist. Schließlich kamen schriftliche Aufzeichnungen im 9. Jahrhundert erst langsam auf. Davor waren die Menschen allein auf mündliche Überlieferungen angewiesen.

Folcwins Urkunden-Sammlung gilt als das größte Privatarchiv aus dem Frühmittelalter weltweit. Sie ist für die internationale Forschung so interessant, weil es sonst aus dieser Zeit kaum Informationen über die Lebensumstände der Menschen abseits der Klöster gibt.Weil die Häuser damals aus Holz gebaut wurden, fehlen auchbauliche oder andere archäologische Überreste, die auf Siedlungen aus dieser Zeit schließen lassen. „Das Leben der Walgauer davor und ein halbes Jahrtausend danach liegt praktisch im Dunkeln”, zeigt Dr. Peter Erhart auf.

Private Urkunden dem Kloster vermacht

Dieses Buch, welches Dr. Erhart 2009 im Auftrag der Elementa Walgau herausgegeben hat, erklärt und beschreibt die Geschichte des Walgaus im frühen Mittelalter sehr genau.

Maßgeblichen Anteil daran, dass die Dokumente bis heute erhalten blieben, hat Folcwin selbst. Der Schultheiß scheint sie nämlich dem Kloster St. Gallen vermacht zu haben. Obwohl es keinerlei Hinweis darauf gibt, dass damit auch die genannten Grundstücke in den Besitz des Klosters übergingen, wurden die Verträge dort über die Jahrhunderte hinweg verwahrt. Klöster gehörten zu den wenigen Gebäuden, die für die Ewigkeit gebaut und deshalb aus Stein errichtet wurden. Im Laufe der letzten 1200 Jahre haben die schriftlichen Aufzeichnungen dort Bränden, Kriegen und Plünderungen getrotzt. Sie wurden von Archivaren systematisch geordnet, in Kisten verpackt und bei Gefahr mit anderen Unterlagen in Sicherheit gebracht. Man geht davon aus, dass trotz dieser Maßnahmen nur rund ein Viertel des Urkundenbestandes aus dieser Zeit überlebte. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade die Folcwin-Urkunden noch vorhanden sind, welche für das Kloster selbst eigentlich keinen Wert darstellten. Für die Forscher von besonderer Bedeutung ist der Umstand, dass es sich um originale Pergamente handelt.

Die Archivare anderer Klöster lösten ihre immer größer werdenden Platzprobleme meist damit, dass sie die ihnen überlassenen Dokumente abschrieben und in Büchern zusammenfassten. Die Originale verloren damit an Wert und verschwanden irgendwann aus den Archiven. So ist etwa belegt, dass Mitarbeiter des Grazer Stadtarchivs im 19. Jahrhundert ihr Schimmel-Problem damit lösten, dass sie den gesamten Bestand einfach in die Mur kippten. In St. Gallen ging man einen anderen Weg. Von Anfang an wurden die Originale mit größter Sorgfalt gehütet und keinerlei Kopien angefertigt. Damit sind Übertragungsfehler ausgeschlossen. Urkunden wurden damals zu kleinen Päckchen gefaltet  und verschnürt, damit sie  möglichst wenig Platz beanspruchten. Auf den Außenseiten vermerkten die Archivare in kurzen Notizen den Inhalt. Dabei verwendeten sie beispielsweise oft den aktuellen Namen der Ortschaften, sodass auch diese Vermerke den Forschern immer wieder auf die Sprünge helfen. 

„Ich finde es emotional sehr berührend, wie nah man durch diese Urkunden an die Leute herankommt. Die Menschen machten sich dieselben Sorgen um Besitz, das Erbe und ihre Nachkommen wie heute”, sieht Dr. Peter Erhart viele Parallelen zur Gegenwart. Allerdings waren die  Lebensumstände deutlich einfacher. Die Dörfer bestanden aus vier bis fünf Höfen, in denen Mensch und Tier unter einem Dach lebten. War die Sippe begütert genug, leistete sie sich eine einfache Holzkirche und manchmal sogar einen eigenen Pfarrer, der für das Seelenheil von rund zwanzig Personen verantwortlich war. Die Priester waren als einzige des Schreibens mächtig, Neben Naturalien dienten Eisenbarren als Zahlungsmittel. Das Erz dafür wurde unter anderem in der Nähe von Bludenz gewonnen. Belegt ist außerdem, dass in dieser Zeit bereits Alp­wirtschaft betrieben wurde. Auch Zuwanderung war damals schon Thema.

Wohltäter oder Gauner?

In den Schenkungs- und Verkaufsurkunden des Schultheiß Folcwin wechseln meist Wiesen und Äcker den Besitzer. Als Flächenmaß dienten Burden, welche sich vom Heuertrag ableiteten, beziehungsweise der römische „modius”. Dieser entsprach jener Fläche, die mit einem Scheffel Saatgut eingesät wurde. Einige dieser Grundstücke grenzten unmittelbar an Folcwins privates Zuhause auf dem Rönsberg in Schlins. Dies gilt als Fakt, weil der Schultheiß auf einigen Urkunden explizit als Anrainer genannt ist. Inwieweit Folcwin seine Stellung ausnutzte, um sich persönlich zu bereichern, wird nicht mehr zu klären sein. „Der Verdacht, dass er ein Gauner war, liegt schon nahe”, erklärt etwa der Nenzinger Gemeindearchivar Thomas Gamon. 

Das Ehepaar Onorius und Valeria aus Schlins etwa hat mit einem Grundstück Schulden beim Schultheiß beglichen. Salinus übertrug seinen Besitz als Wiedergutmachung für einen Betrug. Er musste Folcwin regelrecht darum bitten, diese Gabe anzunehmen. Dabei ist kaum anzunehmen, dass der Schultheiß diese Gelegenheit gern verpasst hätte. Schließlich befand sich der Acker gleich neben einem Grundstück, das bereits in seinem Besitz war. Leuta, ihr Sohn Isinrih und Isinberga beschenkten Folcwin hingegen als Dank für dessen Verdienste. Diese privaten Geschäftsbelege wurden allesamt in den Jahren 817 bis 825 ausgestellt. Woher Folcwin ursprünglich kam, sowie was er vor oder nach dieser Zeit tat, liegt völlig im Dunkeln. 

Mindestens sieben Zeugen als „Beglaubiger”

Folcwin-Experte Erhart geht davon aus, dass es im frühmittelalterlichen Walgau neben einer breiten Unterschicht mit einer großen Anzahl an Unfreien, eine Oberschicht gab, die als Freie über ihr Hab und Gut verfügen konnten. Diese sind es, die in den Urkunden als Verkäufer, Schenker und Zeugen aufscheinen. Für die Forscher ist zudem der Umstand, dass in der Regel auch Frauen in die Geschäfte involviert waren oder sie sogar selbst abwickelten, von besonderer Bedeutung. 

Die Schreiber der Urkunden, Andreas, Valerius, Vigilius und Drucio, dokumentierten an manchen Tagen sogar mehrere Geschäfte für Folcwin. So wurde dem Schultheiß am 28. März 820 ein Grundstück in Schlins von Alonius, Bewohner der Siedlung Nüziders, übertragen. Kurz danach reiste der Schreiber Andreas, der für Folcwin wohl auch als eine Art Notar tätig war, nach Bürs, wo der Schultheiß von Ioanna eine Wiese erwarb. Solche Grundgeschäfte wurden jeweils von sieben bis zehn Zeugen „beglaubigt”, die  allesamt männlich und von freiem Stand sein mussten. Die Hierarchie der Zeugenliste veranschaulicht deren Stellung in der Gesellschaft. An jenem Tag scheint Propst Estradarius den Schreiber begleitet zu haben. Er ist als einziger bei beiden Grundgeschäften, welche auf demselben Pergamentblatt festgehalten wurden, als Zeuge aufgeführt.

Der Nenzinger Gemeindearchivar, Mag. Thomas Gamon, ist sehr beeindruckt von den Erkenntnissen, welche die Folcwin-Urkunden über die Vergangenheit seiner Heimatgemeinde eröffnen.

„Dank der Folcwin-Urkunden ist der Walgau eine der am besten dokumentierten Landschaften Europas”, freut sich Dr. Erhart. Er möchte mit dieser Ausstellung durchaus auch eine Brücke zur Gegenwart schaffen. „Jeder hat zuhause ein Privatarchiv, das für die Nachfahren einmal interessant werden könnte.” Er ist sich mit dem Nenzinger Gemeindearchivar Thomas Gamon einig, dass man sich nicht darauf verlassen sollte, dass heutzutage eh alles irgendwo gespeichert ist. „Es sind die Originale, die uns die wirklichen Geschichten erzählen”, appellieren die beiden, alte Unterlagen nicht einfach zu entsorgen, sondern den örtlichen Archiven zu überlassen. „Ich bin stolz auf meinen Heimatort Satteins”, erklärt Stiftsarchivar Erhart. Die Gemeinde hatte ihn beauftragt, gemeinsam mit anderen Autoren die Dorfgeschichte aufzuarbeiten. Das Buch ist längst fertig, aber der geschichtliche Ausschuss existiert immer noch. „Man muss die Geschehnisse im Auge behalten, dann macht man es den nachfolgenden Generationen einfacher.”

Auf den Geschäften des Schultheiß Folcwin fußt das Jubiläum, welches die Walgau-Gemeinden Schlins, Nenzing, Schnifis, Nüziders und Bürs heuer feiern. Denn diese Ortschaften wurden in diesen Verträgen erstmals erwähnt und damit ist klar, dass sie mindestens 1200 Jahre alt sind. Das St. Galler Stiftsarchiv widmete „Folkwins Gedächtnis” eine aufwendig gestaltete Jahresausstellung, in der auch die Original-Urkunden aus dem Walgau zu besichtigen sind. Dafür wurden eigens Vitrinen angeschafft, in denen die Schrift­stüc­ke bei idealer Temperatur und Luftfeuchtigkeit präsentiert werden. In den abgedunkelten Räumen fällt erst auf Knopfdruck etwas Licht auf die Pergamentstücke, sodass der Besucher sie in Augenschein nehmen kann. Auch auf den größten Schatz des Klosters St. Gallen – einen Klosterplan aus dem 8. Jahrhundert – kann man im Rahmen dieser Ausstellung einen Blick werfen. 

Wer sich für den Nachlass des Schultheiß Folcwin sowie die Lebensumstände in seiner Zeit interessiert, sollte diese Gelegenheiten nutzen: Die Ausstellung im Stiftsarchiv ist jeweils von Montag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr sowie an jedem ersten Donnerstag im Monat bis 19 Uhr geöffnet. 

Organisierte Fahrten zum Stiftsarchiv St. Gallen mit Zusteigemöglichkeiten in
Bürs, Lünerseepark (13.10 Uhr)
Nüziders, Bäckerei Begle (13.20 Uhr)
Schlins, Feuerwehrhaus (13.30 Uhr)
Nenzing, Rathaus (13.40 Uhr)
am Mi., 25. März, Fr., 27. März und Sa., 28. März
Führung in St. Gallen von 15 bis 17 Uhr, danach Rückfahrt mit den gleichen Ausstiegsstellen, Ankunft ca. 18.30 Uhr
Kosten inklusive Busfahrt, Eintritt und Führung: zehn Euro
Anmeldung unbedingt erbeten an E-Mail: thomas.gamon@nenzing.at

Kurzvorträge mit anschließender Führung im Stiftsarchiv:
Donnerstag, 12. März, 17 Uhr:

„Hunfrid – Graf zweier Rätien”
von Heinz Gabathuler
Donnerstag, 7. Mai, 17 Uhr: 

„Folcwin – Volksfreund oder Usurpator?”
von Dr. Peter Erhart

Kuratorenführungen im Stiftsarchiv:
jeweils ab 10.30 Uhr am
23. April, 4. Juni, 22. Oktober und 10. Dezember

Kinderführungen im Stiftsarchiv:
jeweils um 15 Uhr am
18. März, 15. April, 20. Mai, 17. Juni, 15. Juli, 19. Aug.,
16. Sept., 21. Okt., 18. Nov. und 16. Dez.

Kalligrafiekurs:
Wer die schönen Schriftzeichen aus dem frühen Mittelalter schreiben lernen möchte, hat dazu bei einem Kurs Gelegenheit, den die Volkshochschule Bludenz in Zusammenarbeit mit der Marktgemeinde Nenzing anbietet: Renate Welte führt die Teilnehmer am Samstag, 9. Mai von 9 bis 17 Uhr im Wolfhaus in Nenzing in die Welt der karolingischen Minuskeln ein.

Sämtliche Folcwin-Urkunden und deren Übersetzungen aus dem Lateinischen sind im Internet unter www.e-chartae.ch einsehbar.

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