Er kennt geheime Verbindungswege zwischen den Häusern, weiß, in welchem Hinterhof man noch ein Stück der alten Stadtmauer entdecken kann, und ist ein erklärter Fan der mittelalterlichen Fassaden: Werner Hämmerle leitet das Heimatmuseum am Oberen Tor und ist einer von drei Nachtwächtern, welche momentan jeden Donnerstag Abend durch Bludenz ziehen.
FOTOS: CHRISTA ENGSTLER
„Ich werde oft zum Geburtstag verschenkt”, lacht Werner Hämmerle. Er schlüpft dann in sein Nachtwächter-Kostüm und nimmt die Gesellschaft vor dem Schloss Gayenhofen in Empfang. Am liebsten führt er Menschen durch die Bludenzer Altstadt, die sich in der Region zumindest ein bisschen auskennen, die wissen, in welcher Richtung der Montikel oder das „Galgatobel” zu finden sind. Vom Montikel donnerten in früheren Jahren nämlich immer wieder Muren ins Tal, welche die Siedlungen unter sich begruben. Bei Grabarbeiten im Bereich des heutigen Pflegeheims Laurentius-Park wurden 1935 Münzen und Scherben geborgen, welche eindeutig belegen, dass am Montikel schon vor 4000 Jahren Menschen lebten. „Unser Städtle geht auf diese Siedlungen zurück”, berichtet der Nachtwächter mit stolzem Unterton.
Im Ruhestand zum Museumsdirektor
Er selbst ist nämlich „Urbludenzer”. Aufgewachsen in der „Siedlig, die damals völlig autark war”, arbeitete er 40 Jahre lang als Lokführer und engagierte sich 23 Jahre als Vorsitzender der Eisenbahnergewerkschaft. Als der Ruhestand näherrückte, sah er sich nach einer Freizeitbeschäftigung um, die ihn weiterhin fordern würde. Weil er gerne andere Länder – vor allem unser Nachbarland Deutschland – erkundet, absolvierte er in Berlin eine Ausbildung zum Reiseleiter. Als Prüfungsaufgabe brachte er einer Gruppe die Sehenswürdigkeiten von Schloss Sanssoucci in Potsdam näher und betreute eine Busgesellschaft drei Tage lang an der Mecklenburgischen Seenplatte. So richtig erwischt hat ihn das Geschichtsfieber aber während eines privaten Urlaubs in Husum. „Wir vom Jahrgang ’50” lautete der Titel eines Buches, das ihm in einer Auslage ins Auge stach. Es enthielt eine sehr persönliche Geschichte der Stadt – eben aus der Perspektive des 50er-Jahrgangs. „So etwas möchte ich für Bludenz schreiben”, war ihm beim Durchblättern gleich klar. Zurück in Bludenz durchforstete er das Stadtarchiv und alte Ausgaben des „Bludenzer Anzeiger” und war bald mit vielen Details der aufregenden Vergangenheit des „Städtle” vertraut.
Es lag also nahe, dass Hans Müller, der 40 Jahre lang das Heimatmuseum am Oberen Tor betreut hatte, an ihn dachte, als er diese Aufgabe – fast 80jährig – an einen Jüngeren weiterreichen wollte. Seither ist Werner Hämmerle Herr über die sieben Ausstellungsräume, in denen fast 500 Exponate aus verschiedensten Epochen das alte Bludenz auferstehen lassen. Werner Hämmerle kann zu jedem Stück eine Geschichte erzählen, passt seinen Vortrag an die Interessen seiner Zuhörer an. So ist es etwa in der Bludenzer Volksschule Obdorf seit Jahren Tradition, dass Werner Hämmerle die Drittklässler von der Schule abholt und mit ihnen gemeinsam zum Museum wandert. Das wird nicht langweilig. Denn auf dem Weg zum Oberen Tor erzählt er ihnen vom früheren Leben in der „Siedlig”, dass es im Galgentobel einst ein „Badehaus” – also sozusagen die erste Sauna – gab, oder von der Pest, an welche die St. Anna Kapelle erinnert. Werner Hämmerle freut sich, wenn die Kinder ihm beim Spaziergang und dann beim Rundgang durchs Museum ein Loch in den Bauch fragen.
Nachtwächterführungen sind bei groß und klein besonders beliebt. Bei einem Ausflug zur Wartburg in Eisenach konnte Werner Hämmerle nicht widerstehen, als dort auf einem Mittelalter-Markt Nachtwächterkostüme angeboten wurden. „I hon des ganze Häs koft” – inklusive Hellebarde und Laterne versteht sich. Seit ein paar Jahren ist er auch begeistertes Mitglied der Deutschen Gilde der Nachtwächter, Türmer und Figuren. Zweimal im Jahr repräsentiert er bei Treffen in den verschiedensten Regionen seine Heimatstadt, genießt es, dass er dort bei „Insider-Führungen” besondere Einblicke in geschichtsträchtige Gebäude bekommt. Das passt aber auch zu seiner Rolle. Der Nachtwächter wusste früher alles, kannte alle Gerüchte. „Welcher Mann seiner Frau untreu, wer krank war, wo ein Kind geboren wurde – Der Nachtwächter hat alles mitbekommen”, erklärt Werner Hämmerle. „Obwohl er die Bevölkerung durch seine Arbeit beschützte, gehörte er dem niedersten Berufsstand an – gleichrangig mit dem Totengräber, Abdecker, Schinder oder Henker. Es war eine Art Versorgungsjob.” Für Werner Hämmerle ist dies unverständlich.
In Bludenz war nichts zu holen
Im mittelalterlichen Bludenz waren es vor allem Feuer, Wasser und Seuchen, die eine Gefahr darstellten. Die Stadt ist drei Mal völlig niedergebrannt, die Pest hat einst die Bevölkerung auf rund 90 Menschen reduziert. Während die Pest in drei bis vier Tagen zum Tod führte, zog sich das Leiden „Aussätziger” 30 bis 40 Jahre hin. Wer erkrankt war, wurde ins Sondersiechenhaus am Töbele gebracht. Wenn das Ende nahte, wurden die Aussätzigen in einer Prozession in die Spitalskirche gebracht und dort „ausgesegnet”, dann ging es weiter zum Friedhof beim „Welschen Kirchle” (heute steht dort die Hl. Kreuz Kirche), wo sie ein zweites Mal in christlicher Tradition auf den Tod vorbereitet wurden.
Das zentral gelegene Spitalskirchle liegt Werner Hämmerle besonders am Herzen. Während einer Kirchenpädagogischen Ausbildung hat er sich besonders mit diesem unscheinbaren Kleinod in der Bludenzer Rathausgasse befasst. Es freut ihn, dass ein Kirchlein, in dem nie „Glanz und Gloria, sondern Not und Elend” vorherrschten, heute als Taufkirche wieder besonders beliebt ist.
„Überfälle gab es in Bludenz kaum”, erzählt der Nachtwächter auf seiner Tour. „Alle wussten, dass es bei uns nichts zu holen gibt.” Doch er kennt auch andere Geschichten, solche, in denen sich die Münchner Künstler-Szene rund um die in Bludenz geborene Grete Gulbransson im Alpenstädtle trifft, man im „Bädle” in Nüziders speist und Postkarten aus „Klein-Weimar” verschickt.
In ihrem Buch „Geliebte Schatten” schreibt Grete Gulbransson allerdings auch vom Gestank, den ihre hochwohlgeborene Mutter Wanda Douglass kaum ertrug, als diese nach dem Tod ihres Mannes ihrer zweiten Liebe, dem Bludenzer Kunstmaler Jakob Jehly, nach Bludenz folgte. „Damals gab es hinter jedem Haus einen Misthaufen und eine Güllegrube. Die Leute wurden angehalten, wenigstens am Sonntag Vormittag den Nachttopf nicht auf der Straße auszuleeren”, weiß Werner Hämmerle. Er möchte seinen Zuhörern bewusst machen, dass diese Zeit noch nicht gar so lange her und Bludenz in dieser Hinsicht kein Einzelfall ist. „Wanda Douglass heiratete Jakob Jehly 1879. „Mein Vater wurde 1901 geboren. Nur zehn Jahre davor wurde in Bludenz die Kanalisation gebaut – im selben Jahr wie in Stuttgart.”
Er könnte stundenlang erzählen, das glaubt man ihm aufs Wort. Doch Werner Hämmerle schaut auf sein Publikum. Stolz präsentiert er die Schlüssel von Schloss Gayenhofen und der Spitalskirche, wo er mit seiner Truppe Unterschlupf findet, wenn es einmal gar zu kalt oder naß ist. Er kennt im Städtle fast jeden, hat Zugang zu privaten Hinterhöfen, in denen die Spuren der Vergangenheit noch deutlich zu sehen sind. Trotzdem „gebraucht eure Fantasie”, fordert er von seinen Zuhörern. Denn das Bludenz, von dem er erzählt bestand aus etwa hundert Häusern mit rund 500 Bewohnern. Mit seinem Einsatz als Nachtwächter und Stadtführer will er dazu beitragen, dass diese Zeit nicht in Vergessenheit gerät.
Von Anfang Jänner bis Ende März gibt es jeden Donnerstag von 19 bis 21.30 Uhr Gelegenheit, an einer Nachtwächterführung teilzunehmen. Interessierte können sich im Büro des Alpenstadt Bludenz Tourismus in der Rathausgasse beziehungsweise unter Tel: 05552/63621-790 und E-Mail: info@alpenregion.at informieren und bis spätestens am Vortag um 16 Uhr anmelden.