Teil eines großen Ganzen

„Ich esse im Zug, ich schlafe im Zug, ich lerne im Zug”, lacht Julia Bilibio. Für ihren Traum, zur Tanz- und Akrobatikgruppe Zurcaroh dazuzugehören, nimmt die 17jährige einiges auf sich. Momentan ist die junge Thüringerin in Amerika. Mit einer fulminanten Show hat sich Zurcaroh im Juni auf Anhieb ins Viertelfinale von „America`s Got Talent” getanzt. Am 28. August wird sich zeigen, ob die Truppe weiterkommt. Als Hauptpreis winken immerhin ein Show-Vertrag in Las Vegas und eine Million Dollar. 

FOTOS: ZURCAROH / Bart Heemskerk, TM-Hechenberger

Doch dies ist nicht der Grund, warum Julia Bilibio seit vier Jahren bis zu fünf Mal in der Woche nach Götzis ins Training fährt und auch an den Wochenenden einen Großteil ihrer Freizeit dort verbringt. „Ich bin Teil eines großen Ganzen”, ist sie immer wieder fasziniert, wenn sie auf einer Videoaufnahme erst wirklich realisiert, welche Bilder die 50 Tänzer und Akrobaten auf der Bühne gemeinsam kreieren. Denn der Einzelne studiert seinen Part ein, übt unzählige Male die verschiedenen Figuren. Vor allem die Darbietungen der Akrobaten lassen schon das eine oder andere Mal den Atem stocken. Wenn aber alle gemeinsam auf der Bühne stehen, entführt Zurcaroh die Zuschauer in eine andere Welt, zieht sie in ihren Bann und erzählt Geschichten, die unter die Haut gehen. 

Nach der Gymnaestrada „hängengeblieben”

Der Kopf des Ganzen ist Choreograph und Trainer Peterson da Cruz Hora. Er gründete Zurcaroh 2007 in seiner Heimat Brasilien. 2009 kam er anlässlich der Gymnaestrada nach Vorarlberg und blieb hier hängen. Seit nunmehr neun Jahren trainiert er im Ländle mit Menschen zwischen sieben und vierzig Jahren. Seine poetischen Inszenierungen bezaubern. Wenn dann noch kleine Kinder meterhoch durch die Luft wirbeln und mit Leichtigkeit und sicherem Griff aufgefangen werden, bleibt so manchem der Mund offen.

Die Shows von Zurcaroh sind bis ins Detail durchchoreographiert.

Julia Bilibio sah die Truppe zum ersten Mal bei einer Gala, zu der sie ihre Mutter begleitete. „Eigentlich wollte ich erst gar nicht mitgehen”, erinnert sie sich an einen Augenblick, der ihrem Leben eine Wendung gab. Denn die Show fesselte sie derart, dass sie wusste „da will ich unbedingt mit dabei sein.” Julia hatte zuvor mit viel Freude im Thüringer Badminton-Verein Sport betrieben, von Tanz und Akrobatik hatte sie allerdings nur wenig Ahnung. „Einen Sommer lang habe ich jeden Tag Situps gemacht”, berichtet sie von der Zeit vor dem ersten Probetraining. Ihre Mutter, die einst selbst als Tänzerin auf der Bühne stand, musste ihr alle möglichen Übungen zeigen. Julia wollte auf keinen Fall riskieren, wieder heimgeschickt zu werden. Nach einer Woche kam dann das erlösende „Du kannst gerne mitmachen, du hast sehr viel Potenzial.” Mit diesen Worten begann das umtriebige Leben, welches Julia aus vollen Zügen genießt. 

Tolle Gemeinschaft
Die Vorarlberger Truppe begeistert auch vor großem Publikum. Die 50 Tänzer und Akrobaten opfern einen großen Teil ihrer Freizeit für die Show.

„Wir sind so eine tolle Gemeinschaft”, schwärmt sie, „jeder Einzelne ist wichtig.” Außerdem freut sie sich, dass das Tanzen sie in alle möglichen Länder führt. Da macht es ihr nicht so viel aus, wenn sie oft bis zur Erschöpfung trainiert, ihre Hausaufgaben im Zug erledigt und so manche Party sausen lassen muss, weil das Training wichtiger ist. 

„Anfangs war es für mich total schwierig, mir die Choreographien zu merken”, berichtet die junge Tänzerin, die bei gewissen Hebefiguren auch schon mal ihre Angst überwinden musste. Doch bei Zurcaroh unterstützen die Mitglieder einander. Julia findet immer jemanden, der außertourlich mit ihr übt, bis sie jeden Schritt im Schlaf beherrscht. Auch abseits des Trainings ist die Truppe eine eingeschworene Gemeinschaft.

Standing Ovations und „Golden Buzzer”

Obwohl sie gemeinsam in verschiedensten Ländern das Publikum begeistert und auch schon Auszeichnungen geholt haben, wird der Augenblick, als Super-Model Tyra Banks sie mit einem „Golden Buzzer” direkt ins Viertelfinale der weltweit ausgestrahlten Show „America`s Got Talent” katapultierte, wohl allen immer in Erinnerung bleiben. „Wir waren so fixiert auf das, was wir jetzt bringen müssen, niemand hat geredet, jeder hat einfach nur gemacht”, erzählt Julia Bilibio. Als dann klar war, dass sie weiterkommen werden und die Anspannung abfiel, „haben auch die großen Jungs geweint, wir sind uns alle um den Hals gefallen. Wir haben alle gespürt, wie schön es ist, wenn man zusammenhält.”

Wieder zuhause im Ländle hatte sie einige Mühe, nicht auszuplaudern, wie gut es gelaufen war. Denn während das Viertelfinale und die weiteren Shows live ausgestrahlt werden, wurde die erste Runde im März aufgezeichnet, und alle Mitwirkenden hatten sich zum Stillschweigen verpflichtet. 

Vor allem ihren Mitschülern gegenüber – Julia Bilibio besucht die Fachschule für wirtschaftliche Berufe in Bludenz – fiel es ihr schwer, die große Freude zu verbergen. Denn sie hatte ja wieder einmal außertourlich vom Direktor frei bekommen. „Alle wussten, dass ich in Amerika war.” Sie erzählte deshalb lieber von den Begegnungen backstage und dem Wenigen, das sie in den drei Tagen von Los Angeles mitbekommen hatte. 

Nach dem Auftritt im Viertelfinale am 28. August werden sich die Vorarlberger Tänzer und Akrobaten nicht sofort wieder auf den Heimweg machen – egal, ob sie aufsteigen oder nicht. Zumindest zehn Tage lang wollen sie die Atmosphäre der amerikanischen Film-Hauptstadt auf­saugen. 

Eine zweite Familie gefunden

Zuvor ist allerdings wieder hartes Training angesagt. Denn falls es mit dem Aufstieg klappt, muss die Truppe bei jedem Weiterkommen ein neues Programm bieten können. Und auch das verpflichtende Berufspraktikum, welches Julia im Büro der Stiftung Helimission in der Schweiz absolviert, muss bis dahin erfolgreich abgeschlossen sein. 

„Glücklicherweise haben alle Verständnis”, freut sich Julia Bilibio, wenn ihre Chefs, Lehrer und Eltern ihr für ihr Zurcaroh-Engagement stets gerne freigeben. Im Gegenzug muss sie sich aber in der Schule und auch im Praktikum anstrengen, das Versäumte verlässlich nachzuholen. Dazu ist die gebürtige Brasilianerin gerne bereit. Denn seit sie vor zehn Jahren mit ihrem Bruder und den Eltern nach Vorarlberg kam, hat sie hier nicht nur eine neue Heimat, sondern auch eine zweite, große Familie gefunden. 

 

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