Sabine Grohs nutzte die Corona-Lockdowns, um den Rätseln ihrer Kindheit auf den Grund zu gehen – und fand genügend Stoff für einen weiteren Roman und eine Ausstellung. Ab September können Interessierte tief in die Geschicke einer Familie eintauchen, die sich in zwei Ländern und zwei Weltkriegen behaupten musste.
FOTOS: PRIVAT, DR. DIETER PETRAS, TM-HECHENBERGER
Ernst Dönz war nicht wie andere Montafoner Großväter. Er schälte seinen Camembert, bestand auf einem Glas Wein zum Essen und wechselte plötzlich vom Montafoner Dialekt ins Französische, wenn er in Rage geriet. „Und dann war da noch diese rätselhafte Aussage, er habe im Krieg immer in den Boden geschossen, weil er Angst hatte, seinen Bruder zu treffen”, erinnert sich Sabine Grohs. Die Bludenzerin hütet einen ganzen Schatz an Briefen, Fotos, Dokumenten und Erinnerungsstücken aus dem Nachlass ihrer Vorfahren. „Mich hat das immer schon interessiert. Darum haben mir meine Verwandten alles zur Aufbewahrung gebracht.” Schon für ihren ersten Montafon-Roman „Außer Haus”, den sie vor zwei Jahren veröffentlichte, hat Sabine Grohs die eine oder andere Begebenheit aus diesem Erinnerungsschatz geplündert. Doch diesmal beschloss sie, den offenen Fragen ihrer Kindheit gezielt auf den Grund zu gehen. Basis ihres zweiten Romans „Dönz. So weit man weiß” sind mehr als 260 Briefe, die in den Jahren 1895 bis 1964 von den Familienmitgliedern geschrieben wurden. Sabine Grohs hat sie alle durchgeackert, mühsam Kurrentbuchstaben entziffert und zum Teil aus dem Französischen übersetzt. Fotos und Verträge lieferten ihr weitere Details, und was im Dunkeln blieb, hat sie mit Erinnerungen und Fantasie gefüllt. So ist ein spannendes Werk für historisch Interessierte und Roman-Begeisterte entstanden, welches die Autorin ab 16. September der Öffentlichkeit präsentiert.
Mutige Auswanderin
Im Zuge ihrer Recherchen stieß die Kommunikationsexpertin unter anderem auf die Doktorarbeit des Schlinser Gemeindearchivars Dr. Dieter Petras. Der Historiker hat in akribischer Kleinarbeit sämtliche Walgauer erfasst, die von 1700 bis 1914 der Heimat den Rücken kehrten. Diese Arbeit über die Walgauer Auswanderer ist auf der Website der Regio Im Walgau mit Suchfunktion einsehbar. „So zum Spaß” gab Sabine Grohs den Namen ihrer Urgroßmutter ein. Sie wusste ja, dass die gebürtige Frastanzerin nach Frankreich ausgewandert war und dort vier Kinder – unter anderem Großvater Ernst – geboren hatte.
Nun wurde alles viel konkreter: Katharina Wiederin, von Beruf Modistin und 34 Jahre alt, war also 1908 nach Maisons-Alfort – einer Stadt rund zehn Kilometer vom Pariser Zentrum entfernt – aufgebrochen. Sabine Grohs wollte mehr darüber wissen, und ihre Neugier wurde von Dr. Petras geteilt. Denn nur wenige der Walgauer Auswanderer sind so weit ins Herz von Frankreich vorgedrungen. „Rund 80 Prozent zogen ins erweiterte Wohnzimmer der Alemannen, ins Elsass”, erklärt der Historiker, „Mutigere ließen sich im Burgund nieder.” Katharina Wiederin gehörte zu den fünf Prozent, die weit mehr wagten, noch dazu als Frau, ganz allein. Eine weitere Besonderheit ließ Dieter Petras ebenfalls aufhorchen: Diese Frau hatte ein Handwerk erlernt, was damals nur wenigen Zeitgenossinnen vergönnt war. Er unterstützte deshalb die ambitionierte Autorin nach Kräften und zeigte so manchen Weg auf, der Sabine Grohs ein Stück mehr ins Leben ihrer Urgroßmutter eintauchen ließ. Geduldig verknüpfte sie Hinweise aus diversen Archiven mit den Informationen aus den ererbten Unterlagen und puzzelte so das Bild einer selbstbewussten Frau zusammen, die in ihrem Leben so manche Höhen und Tiefen zu meistern hatte. „Der Inhalt meines Buches hat sich dadurch verändert”, schildert die Autorin. Eigentlich wollte sie ja nur die Geschichte ihres Großvaters erzählen. Doch nun kam sie beim Schreiben um dessen Mutter nicht mehr herum.
Eröffnung eines Hutsalons in Tschagguns
Denn Katharina Wiederin, von der sie bisher nur den Namen kannte, eröffnete im Jahr 1900 im Haus des Organisten Neyer in Tschagguns ein Hutwarengeschäft. Sie musste dafür ein Darlehen beim „Spar- und Darlehenscassen-Verein” aufnehmen. Aus heutiger Sicht scheint es vorhersehbar, dass die damals 24-jährige Unternehmerin bereits vier Jahre später Konkurs anmelden musste. Ihre Urenkelin ist trotzdem stolz auf den Mut der Ahnin. Sie kann sich aber gut vorstellen, dass die Gescheiterte danach so manch schadenfrohes Getuschel aushalten musste und vielleicht auch deshalb mit dem Auswandern liebäugelte. Außerdem hatte die junge Frau bereits Kontakt zu Otto Dönz, der sich schon einige Jahre früher von Tschagguns nach Vitry-sur-Seine – einem Vorort von Paris – aufgemacht und dort ein Bauunternehmen gegründet hatte. Jedenfalls heirateten die beiden kurz nach
Katharinas Ankunft in Frankreich, und noch im selben Jahr wurde Otto Eugène, zwei Jahre später Ernest Joseph Antoine – also Ernst – geboren. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, hatte das Paar bereits drei Söhne, und Katharina war mit ihrem vierten Kind schwanger. Tochter Marie Louise wurde in Gefangenschaft geboren. Denn die Familie war mit dem Kriegseintritt von Frankreich sofort interniert worden. Die Österreicher durften erst wieder in ein zerstörtes Zuhause zurückkehren, als ihre beiden Heimatländer Frieden geschlossen hatten.
Diese Erfahrungen veranlassten Familie Dönz beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, sofort das Weite zu suchen, obwohl sie ein gut gehendes Geschäft und ihr wiederaufgebautes Zuhause zurücklassen mussten. Katharina hatte ein Haus in Latschau geerbt, dort wohnte sie bis zu ihrem Tod 1944. Sohn Ernest – inzwischen 28 Jahre alt – blieb allerdings in Frankreich zurück. Er fühlte sich als Franzose und war dies auch per Gesetz. Gemeinsam mit seinem für den Wehrdienst untauglichen Bruder Otto würde er während des Krieges dazu schauen, dass nicht wieder der gesamte Besitz den Bach runtergehe.
Die Familie hatte allerdings zu wenig bedacht, dass er als junger Franzose an die Front geschickt würde. Während der jüngste Bruder für Deutschland in den Krieg zog, stand er als Mitglied der französischen Armee auf der anderen Seite. Dies änderte sich bald, als er sich angesichts einer drohenden Gefangennahme durch die Nazis als Österreicher „outete”. Ernst Dönz befand sich kurz darauf wieder an der Front – diesmal allerdings in der Uniform der deutschen Wehrmacht. Er blieb dann nach dem Krieg in Vorarlberg, heiratete und gründete eine Familie.
Sabine Grohs begleitet ihren Großvater in dem rund 300 Seiten starken Buch durch diese unsicheren Zeiten und versucht auch die Zerrissenheit darzustellen, die sie schon als Kind an ihm beobachtete. Ernst Dönz fühlte sich ein Leben lang als Franzose, obwohl er den Montafoner Dialekt perfekt beherrschte. Er hatte sich in Frankreich als Mitglied des gehobenen Bürgertums sehr wohlgefühlt und kam nur schwer mit seiner späteren Rolle im bäuerlichen Montafon zurecht. Ein Leben lang trauerte er den „guten Zeiten” in Vitry nach. Dafür brachten viele seiner Zeitgenossen nur wenig Verständnis auf. Und dass die „Franzosen” zahlreiche Grundstücke in der Gegend aufgekauft hatten, sorgte ebenfalls nicht unbedingt für Sympathie…
Während der Recherche stand Sabine Grohs in regem Kontakt mit Dieter Petras. Der Historiker begeisterte sich vor allem für die Urgroßmutter, die im Roman eher eine Nebenrolle spielt. „Katharina Wiederins Leben ist ein Beispiel für ein ganz außergewöhnliches Auswandererschicksal”, erklärt der Historiker. Er hat für seine Doktorarbeit die Lebensdaten von mehr als 3000 Walgauer Auswanderern erfasst. Aber kaum ein Leben ist so gut dokumentiert. „Im Normalfall ziehen die Nachkommen irgendwann einmal mit der Familie in eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung und schmeißen alles weg”, weiß er aus Erfahrung.
Dieter Petras freut sich deshalb, dass Sabine Grohs sofort bereit war, ihre Schätze für eine Ausstellung zur Verfügung zu stellen. Unter dem Titel „Lange Heimkehr” werden in der Villa Falkenhorst von 30. September bis Jänner 2022 nicht nur spannende Einblicke in die Lebensgeschichte von Katharina Wiederin geboten. Der Historiker hat zudem den geschichtlichen Überbau so gestaltet, dass die Besucher das Geschehen leicht in die weltgeschichtlichen Zusammenhänge einordnen können. In Zusammenarbeit mit Grafikerin Ingrid Kornexl wurde ein Ausstellungskonzept erarbeitet, das auch interaktive Erlebnisse und konkretes Material zum Anfassen enthält. „Es ist wichtig, dass wir uns mit solchen Lebensgeschichten auseinandersetzen”, ist Dieter Petras überzeugt, „damit wir uns bewusst machen, was für ein Glück wir haben, in so friedlichen Zeiten zu leben.”