„Man sollte digitale Geräte weder dämonisieren noch bagatellisieren.”

Zu viel Zeit am Handy und undurchsichtige Aktivitäten in sozialen Medien: Im Elterncoaching trifft Martin Fellacher nur allzu oft auf Mütter und Väter, die daran verzweifeln, ihre Kinder an die digitale Welt zu verlieren. Der Feldkircher Sozialarbeiter, Personal- und Kompetenzmanager ruft dazu auf, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, und rät zu einem aufmerksamen, aber entspannten Umgang mit Smartphone und Co. Von Verboten hält er wenig. Zutaten der von ihm propagierten „Neuen Autorität“ sind tragfähige Beziehungen und gewaltfreier Widerstand.

FOTOS: TM-HECHENBERGER

Herr Fellacher, die digitale Welt prägt seit einigen Jahren unseren Alltag. Wie haben Sie diese Entwicklung erlebt?

Mein Vater war selbstständig. Deshalb hatten wir zuhause bereits einen Computer stehen, als noch nicht alle Haushalte damit ausgestattet waren. Ich habe gerne programmiert, die digitalen Möglichkeiten faszinieren mich bis heute. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat aber wohl alle überrascht. Im Coaching von Eltern und pädagogischen Fachkräften gibt es mittlerweile kaum noch einen Kontext, in dem nicht früher oder später die Handynutzung zum Thema wird. 


Martin Fellacher
wurde in Graz geboren und ist in Satteins aufgewachsen. Mit 17 Jahren brach er die Schule ab und absolvierte eine Lehre als Elektromechaniker. Schon während dieser Zeit engagierte er sich in der Offenen Jugendarbeit und arbeitete später in der Drogenberatung HIOB, deren Leitung ihm im Alter von nur 25 Jahren übertragen wurde. Er büffelte für die Studienberechtigungsprüfung und studierte erfolgreich an der Sozialakademie in Dornbirn. Gemeinsam mit seiner Familie übersiedelte er von 2004 bis 2006 nach Papua-Neuguinea, um dort ein Zentrum für Berufsausbildung und eine Aids-Beratungsstelle aufzubauen. Dieses Land ist seine zweite Heimat geworden. Nach seiner Rückkehr nach Vorarlberg arbeitete er bei der Flüchtlingshilfe der Caritas, bald als deren Leiter. Über die Bücher von Haim Omer kam er in Kontakt mit dessen Konzept der „Neuen Autorität“, das ihm „so viele Antworten auf so viele Fragen“ in seinem Arbeitsalltag gab.
Nach Abschluss eines Masterstudiums in Personalmanagement gründete er vor zehn Jahren in Zusammenarbeit mit der Stiftung Jupident PINA – ein Institut, das die Neue Autorität in Vorarlberg vermitteln und damit zeitgemäße Antworten auf den gesellschaftlichen Wandel entwickeln möchte. Neben Supervisions-, Coaching- und Weiterbildungsangeboten für Fachkräfte und Unternehmen, die auf eine neue Führungsqualität setzen, bietet das elfköpfige Team auch Beratung und Seminare für Eltern an. Seit acht Jahren operiert PINA selbstständig. Der gleichnamige Verein unterstützt Familien, die in finanziell herausfordernden Situationen stecken.
Weitere Informationen gibt es unter pina.at

Welche Probleme beobachten Sie in Zusammenhang mit digitalen Medien?

Eltern und pädagogische Fachkräfte berichten zunehmend, dass Kinder unkonzentriert sind, sich zurückziehen, in die digitale Welt abtauchen und ihre Pflichten – in manchen Fällen sogar den Schulbesuch – verweigern. Zudem bietet das Internet uneingeschränkten – und oft nicht einmal gesuchten – Zugang zu Themen, die absolut nicht altersgerecht sind. 

Studien belegen, dass Kinder heute bereits im Alter von zehn, elf Jahren zum ersten Mal mit pornographischen Inhalten konfrontiert sind. 

In unserer Jugend war die Hürde deutlich höher. Man musste sich ja erst einmal ein Heftchen organisieren. Heute ist dies ein Klick, man bekommt die Inhalte von der Peergroup sogar ungefragt zugeschickt oder landet zufällig auf entsprechenden Seiten. Im Darknet sind Drogen und Waffen relativ leicht zugänglich. Das sogenannte Grooming – wenn Erwachsene unter gefälschter Identität unter Missbrauchsabsicht mit Kindern Kontakt aufnehmen – ist ein weiteres Problem. Davor müssen wir unsere Kinder schützen. 

Trotzdem bekommen Eltern von Ihnen keine Antwort, wenn sie konkret danach fragen, ab wann sie ihrem Kind ein Smartphone überlassen sollen. Warum?

Weil man da keine allgemein gültige Antwort geben kann. Es hängt stark von den Kindern ab, ob sie soweit sind, ob es in der Situation sinnvoll erscheint. Am schlimmsten finde ich, wenn das Handy jahrelang verteufelt wird und dann bekommt das Kind ein Gerät, weil es jetzt zehn Jahre alt ist. 

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Hören Sie auf Ihr elterliches Bauchgefühl! Mütter und Väter kennen ihre Kinder schließlich am besten. Es kommt immer auf die Situation an. 

Manchmal ist das Handy einfach praktisch, wenn man etwas Dringendes erledigen muss. 

Was spricht dagegen, dass ein Kind auf Mamas Handy mal Benjamin Blümchen schaut?

Es darf nur nicht zur Gewohnheit werden. Oft geht der Wunsch nach einem Handy sogar von den Eltern aus, damit sie ihr Kind in bestimmten Situationen erreichen können. Dann könnte vielleicht auch ein ganz einfaches Gerät ohne Internet-Zugang vorerst mal genügen. Der Umgang mit einem Smartphone muss gelernt sein, und das liegt in unserer Verantwortung. 

Und wenn für das Smartphone entschieden wurde?

Dann sollte die Übergabe gut vorbereitet werden. Die Erziehungsverantwortlichen sollten sich vorab auf einen klaren Rahmen für die Nutzung einigen, Grenzen ganz eindeutig kommunizieren und auf deren Einhaltung bestehen. 

Im Internet kursieren Verträge, die zwischen Eltern und Kindern in Bezug auf die Handynutzung abgeschlossen werden. 

Davon halte ich nichts. Das Kind würde in diesem Moment alles unterschreiben, um das ersehnte Smartphone zu bekommen. Wenn es sich nicht daran hält, handelt es sich dann immer gleich um eine Vertragsverletzung. Stattdessen hat es sich bewährt, Grenzen zu setzen und zu kommunizieren, die für Kinder und Eltern klar sind – und an die sich Eltern auch halten, wenn es zum Beispiel heißt, dass beim gemeinsamen Essen keine elektronischen Geräte am Tisch sind. 

Man sollte anerkennen, dass das Smartphone unendliche Möglichkeiten bietet und viel Spaß macht, den Kindern aber auch klar kommunizieren, dass es auch Gefahren mit sich bringt. Und es ist der Job der Eltern, sie davor zu schützen.

Viele Eltern vereinbaren mit ihren Kindern, dass sie das Smartphone und andere digitale Geräte jeden Tag eine bestimmte Zeitspanne lang nutzen dürfen. 

– Und dann gibt es tagtäglich Diskussionen, ob die Handy-Zeit schon abgelaufen ist, ob das Musikhören am Handy oder das Googeln für die Hausübung auch dazu zählt, ob man das Online Game nicht doch erst zehn Minuten später gestartet hat,… An einem verregneten Tag spricht vielleicht einmal nichts dagegen, acht Stunden lang ein Videospiel zu spielen. Täglich geht das nicht. Stattdessen sollte klar sein, was erledigt werden muss, wann digitale Geräte ausgeschaltet sein müssen. Ich empfehle klare Zeitangaben: 20 Uhr ist 20 Uhr, da gibt es nichts zu rütteln.

Wie können Eltern verhindern, dass ihre Kinder im Internet mit Inhalten konfrontiert werden, die nicht für sie geeignet sind?

Gar nicht, da dürfen wir uns nichts vormachen. Wir können nur versuchen, im Gespräch mit unseren Kindern zu bleiben, damit wir reagieren können, wenn wir bemerken, dass etwas nicht stimmt.

Man kann doch auch gewisse Seiten sperren lassen.

Ja, im Internet werden jede Menge Dienste angeboten, die Eltern vorgaukeln, dass sie damit ihre Kinder schützen können. Die Anleitungen, wie man diese Sperren umgehen kann, findet man jedoch ganz einfach auf Youtube. Unsere Kinder werden uns da immer einen Schritt voraus sein. Auch Verbote nützen nichts. Erwachsene glauben oft, wenn etwas verboten ist, müssen sie nichts mehr tun. Mit Verboten kriegt man jedoch nichts in den Griff, Kinder finden immer einen Weg. Das Rauchen unter 18 ist doch auch verboten. Niemand wird behaupten, dass Jugendliche deshalb nicht rauchen. Es hilft nichts:

Wir sind selbst für den Schutz unserer Kinder zuständig. 

Was kann man also tun?

Wir Eltern müssen präsent sein, schließlich würden wir unsere Kinder in Hamburg doch auch nicht einfach alleine durch die Herbertstraße spazieren lassen. Das Smartphone oder der Computer sollte nicht im eigenen Zimmer, sondern nur in den gemeinsam genutzten Räumen genutzt werden. Dann  bekommen die Eltern mit, auf welchen Seiten sich die Kinder aufhalten. Außerdem ist die Hemmschwelle größer, Verbotenes anzuklicken. Vor allem aber müssen wir echtes Interesse zeigen. Viele Kinder werden mit den digitalen Geräten von der ersten Stunde an alleingelassen. Die Erwachsenen können mit den Spielen, die sie spielen, nichts anfangen oder haben das Gefühl, bei den digitalen Aktivitäten ihrer Kinder nicht durchzublicken. In meinen Seminaren und Vorträgen höre ich oft, dass Eltern Angst haben, nicht mithalten zu können. Ich berichte dann gerne, dass ich selbst immer wieder Zeit auf dem Skaterplatz verbringe, weil mein Sohn sich fürs Trick-Scooter-Fahren begeistert. Auch bei den Musical-Aufführungen meiner Tochter war ich stets präsent, obwohl ich nie so singen werde können wie sie. Trotzdem interessiere ich mich für das, was sie begeistert – und das sollten wir auch im Hinblick auf digitale Aktivitäten unserer Kinder tun. Lassen Sie sich das neueste Video-Game von ihrem Kind erklären, freuen Sie sich mit ihm, wenn es erfolgreich weitergekommen ist, fragen Sie nach, was auf den Social Media Kanälen läuft! Denn dies alles gehört zur Welt Ihres Kindes, und nur so bleiben Sie in Beziehung.

Jugendliche verwehren Eltern Einblicke in ihre Aktivitäten in den sozialen Medien oft mit dem Hinweis auf ihre Privatsphäre. 

Natürlich haben Jugendliche ein Recht auf Privatsphäre. Die Eltern müssen nicht lesen, was sie ihrer Flamme schreiben. Aber ich finde es spannend, dass das Recht auf Privatsphäre  auch für Inhalte gelten soll, die sie mit der ganzen Welt teilen. 

Die Privatsphäre hört bereits bei Gruppenchats auf. Schließlich kann jedes Mitglied der Gruppe jede Nachricht ganz einfach an die ganze Welt verschicken. 

Wir müssen aufhören, die digitale Welt als eigenen Bereich zu sehen, in dem eigene Regeln gelten.  

Eltern sollten also Gruppenchats einsehen?

Unbedingt, Eltern haben die Pflicht, ihre Kinder zu schützen. Am Fußballplatz würden Sie doch auch einschreiten, wenn ihr Kind gemobbt wird! Das können sie nur tun, wenn sie auch mitbekommen, was da abgeht. Die Hemmschwelle in Gruppenchats ist deutlich niedriger als von Angesicht zu Angesicht. In meiner Schulzeit wurden Kinder ebenfalls erniedrigt. Im Unterschied zu heute waren sie aber sicher, sobald sie zuhause waren. Heute gibt es keinen sicheren Ort mehr. 

Was kann man tun, wenn die Kinder das absolut nicht einsehen wollen?

In diesem Buch hat Martin Fellacher die Erkenntnisse in Bezug auf digitale Medien aus seiner langjährigen Berufspraxis, aber auch als Vater zweier inzwischen erwachsener Kinder zusammengefasst.

Es geht in erster Linie darum, klar Position zu beziehen. „Ich will nicht, dass du…“ Da kommen wir nicht dran vorbei – allerdings ohne die Illusion, dass dies immer und sofort funktioniert. Aber es lohnt sich, dranzubleiben. Und es funktioniert viel einfacher, wenn man zuvor schon eine tragfähige Beziehung aufbauen konnte. Ich habe sogar meiner damals zwanzigjährigen Tochter das Smartphone eine Zeitlang jeden Abend abgenommen. Sie hatte sich Tag und Nacht Podcasts angehört, sich dabei ein unglaubliches Wissen angeeignet, es aber eindeutig übertrieben. Ich habe ihr erklärt, dass ihr das nicht mehr gut tut, und sie hat es eingesehen. Außerdem hilft es, Verbündete ins Boot zu holen. Es ist noch einmal etwas anderes, wenn der Göti was zum Thema sagt und Interesse zeigt. Wenn alles nichts nützt, bleibt nur noch die Möglichkeit, das Internet eine gewisse Zeit lang abzudrehen oder den Handy-Vertrag zu sperren. Aber so weit würde ich es nach Möglichkeit nicht kommen lassen. 

Woran erkennt man, dass ein Kind zu viel Zeit am Smartphone oder am Computer verbringt?

Wenn andere Interessen zugunsten der digitalen Aktivitäten aufgegeben werden, das Gaming zur Hauptbeschäftigung wird, es laufend Konflikte darüber gibt, ob die Zeit schon abgelaufen ist, und soziale Kontakte verloren gehen, sind dies Alarmzeichen. 

Haben Sie sonst noch Tipps, wie man Kinder davor bewahren kann?

Sorgen Sie für Vielfalt im Leben ihres Kindes, dass es möglichst viele Alternativen zur digitalen Welt kennenlernt! Und seien Sie selbst ein gutes Vorbild! Dieser Spruch wird Karl Valentin zugeschrieben: 

„Wir brauchen unsere Kinder nicht zu erziehen. Sie machen uns sowieso alles nach.“ 

Dies gilt auch für den Umgang mit Smartphones und anderen digitalen Medien. Vorbildhaftes Verhalten ist zwar keine Garantie für positive Nachahmung, doch wenig vorbildhaftes Verhalten wird mit hoher Wahrscheinlichkeit kopiert. 

Für all jene, die mehr wissen möchten, lohnt sich ein Blick auf pina.at. Dort werden laufend Seminare und Webinare für Eltern und Führungskräfte angeboten. 

Liebe Sophie,

wir freuen uns und sind stolz, dir heute dein erstes Smartphone zu überreichen. Es wird uns die Möglichkeit geben, mit dir in Kontakt zu sein, auch wenn du nicht in unserer Nähe bist. Zudem kannst du mit deinen Freunden und Freundinnen besser in Kontakt sein und dich mit einer virtuellen Welt verbinden, die voll ist von „Action“, Spielen, Bildern und sonstigen Dingen, die dich interessieren. Aber diese Welt birgt auch einige Gefahren, wie du weißt. Wir als deine Eltern sehen es als unseren Auftrag, für deine Sicherheit zu sorgen. Es gibt einige Voraussetzungen, die uns wichtig sind, wenn du dein Smartphone benutzt:

Es ist uns wichtig, dass wir auch künftig als Familie Zeiten miteinander verbringen, die nicht von Medien unterbrochen werden. Deshalb werden wir alle unsere Smartphones in die Ladestation geben, wenn wir gemeinsam essen. Wenn du nach Hause kommst, möchten wir, dass du uns für eine halbe Stunde für ein Gespräch darüber, was du erlebt hast, zur Verfügung stehst. Im Wohnzimmer haben wir eine Ladestation, in der du dein Handy täglich um 20 Uhr ausgeschaltet ansteckst. Es ist wichtig, dass du uns immer deine Passwörter nennst, und drei Mal pro Woche werden wir mit dir die Nachrichten in deinen Gruppenchats durchsehen. Wenn wir eine unangebrachte Nutzung deines Smartphones feststellen, dann werden wir im ersten Schritt ein dreitägiges „Time-Out“ einführen, um in dieser Zeit mit dir darüber zu sprechen, was passiert ist und wie wir in Zukunft damit umgehen können. Wir werden in Zukunft vielleicht Auseinandersetzungen rund um das Smartphone haben. Wir möchten aber, dass du weißt, dass wir dir dieses Smartphone geben, weil wir dir vertrauen und daran glauben, dass wir Schwierigkeiten gut überwinden können, wenn wir miteinander im Gespräch bleiben. Wir sind uns sicher, dass dir dieses Smartphone viel Freude bereiten wird. Also los, mach es auf und schalte es ein!

In Liebe, deine Eltern

So könnte eine Vereinbarung mit dem Kind formuliert sein, wenn es das erste Handy überreicht bekommt. Im Vorfeld sollten sich die Erziehungsverantwortlichen aber selbst klar und einig sein, welchen Rahmen sie stecken möchten. 

 

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