Guntram Dietrich hat ungewöhnliche Arbeitszeiten. Von Montag bis Freitag steuert er jeweils von 15 bis 24 Uhr einen Landbus der Linien 73 und 76 durch den Walgau. Dieser Tagesrhythmus gibt ihm die Freiheit, seinen vielfältigen Hobbys nachzugehen – dem Dressurreiten, Werkeln und Philosophieren mit den Pilgern am Jakobsweg.
FOTOS: CHRISTA ENGSTLER, TM-HECHENBERGER
Die Nachtschicht ist bei den Buschauffeuren des Vorarlberger Verkehrsverbundes nicht unbedingt beliebt. Doch Guntram Dietrich möchte nicht tauschen. Es sind ruhige Touren mit angenehmen Fahrgästen, mit denen sich immer wieder interessante Gespräche ergeben. Und seine freien Vormittagsstunden weiß er gut zu nutzen.
Guntram Dietrich ist auf einem Bauernhof in Dalaas aufgewachsen. Maulesel, Hühner, Pferde, Hunde, Katzen, Puten und Schafe tummeln sich auf dem Gelände rund um den alten Stadel, den er zusammen mit seiner Mutter Christine gründlich saniert und zur Pilgerherberge erweitert hat. Denn die Dietrichs leben direkt am Jakobsweg. Pilger aus aller Welt schätzen das urige Ambiente, das Christine „Christl“ Dietrich mit unzähligen Accessoires aus vergangenen Zeiten gestaltet. Wer die unebenen Holzstufen hochsteigt, entdeckt in jeder Nische liebevoll arrangiertes Holzspielzeug, Alltagsgegenstände aus alten Bauernstuben, Heiligenbildchen und kunstvoll geschnitzte Dekorationen. „Im Winter ist es kalt hier oben”, erklärt die Herbergsmutter. Die wenigen Pilger, die sich von winterlichen Temperaturen nicht abhalten lassen, quartiert sie deshalb in der gemütlichen Stube ein, die sie ansonsten selbst nutzt, wenn sie den kurzen Weg zu ihrer eigenen Wohnung scheut, nachdem sie die Pilger mit stärkender Suppe oder anderer Hausmannskost verwöhnt hat. Im Gastraum sorgt eine schmucke Musicbox für musikalische Untermalung, im Garten locken überall gemütliche Ecken mit höchst unterschiedlichen Sitzgelegenheiten.
„Bei uns kehren oft interessante Leute ein”, berichtet Guntram Dietrich, „auch viele Prominente waren schon da.” Viele Pilger hinterfragen auf ihrem Fußmarsch ihren bisherigen Lebensstil, beschäftigen sich intensiv mit dem Sinn des Lebens. Oft beziehen sie ihre Gastgeber sehr offen in ihre Gedankenwelt ein. So ergeben sich spannende philosophische Gespräche, die beim Hausherrn noch nachhallen, wenn die Pilger schon lange weitergezogen sind. Manche machen zwei, drei Tage in Dalaas Station, um ihren Füßen ein wenig Ruhe zu gönnen, manche marschieren nach einer Nacht bereits weiter. „Das sind dann oft jene, die sich auch während dieser Auszeit unter Leistungsdruck setzen”, hat Guntram Dietrich beobachtet. „Es geht ihnen darum, ihr Ziel möglichst schnell zu erreichen.” Er nimmt es gelassen, lässt sich gerne auf Gespräche ein, wenn dies gewünscht ist, hat aber kein Problem damit, wenn jemand in Ruhe gelassen werden möchte.
Als die Dietrichs vor zwölf Jahren ihre Pilgerherberge eröffneten, fanden sie es anfangs befremdlich, wenn Einzelne anklopften und gleich klarstellten, dass sie aber keinerlei Geld dabei haben, um für Kost und Logis aufzukommen. „Doch inzwischen habe ich gerade vor diesen Gästen großen Respekt”, erklärt Guntram Dietrich. „Mit einem Sack voller Geld ist es schließlich leicht, eine Reise zu unternehmen.” Er nimmt gerne das Angebot an, wenn ein Pilger erklärt, dass er stattdessen auf dem Hof mithelfen würde.
Schließlich gibt es immer genug zu tun. Die Tiere müssen gefüttert und getränkt, die Ställe gemistet, Eier eingesammelt, Obst und Gemüse geerntet werden,… Außerdem liebt Christine Dietrich es, alle möglichen kreativen Ideen umzusetzen. Sie malt und bastelt laufend an irgendwelchen Kunstwerken. Deshalb ist sie immer froh um eine helfende Hand, die Eisengestelle zusammenschweißt, Holzbehälter zimmert oder bei anderen Tätigkeiten mit anpackt.
Guntram Dietrich freut sich, wenn er dadurch Zeit gewinnt, um seiner großen Leidenschaft nachzugehen – dem Dressurreiten. Seine drei Pferde – eine Lucitano Stute und zwei Hengste – müssen täglich bewegt werden. Der Dalaaser schwingt sich jedoch nicht nur lässig in den Sattel. Ihm geht es um eine optimale Körperspannung vom Scheitel bis zur Sohle, um Eleganz und ein optimales Zusammenspiel von Pferd und Reiter. Um dies zu erreichen, nimmt er seit Jahren regelmäßig Unterricht und übt täglich auf seinem ganz privaten Reitplatz. Guntram Dietrich versteht es, aus der Not eine Tugend zu machen. Das Grundstück der Dietrichs liegt in unmittelbarer Nähe zur S 16. Der Verkehr rauscht an dieser Stelle in einer Höhe von zirka 15 Metern über dem Boden dahin.
Doch anstatt sich über den Verkehrslärm zu ärgern, hat Guntram Dietrich das Grundstück direkt unter den Brückenpfeilern von der ASFINAG gepachtet und dort sein Trainingsgelände eingerichtet. „So habe ich einen überdachten Reitplatz, den ich bei jedem Wetter nutzen kann”, freut er sich über diese günstige Möglichkeit, jederzeit seinem Hobby zu frönen. In einem 20 Meter breiten Spiegel hat er seine eigene Haltung und die Bewegungen der Pferde ständig im Blick. „Dressurreiten ist eine Kunst, die man nie völlig beherrscht”, sieht er sich noch lange nicht als „ausgelernt”. Er braucht für seinen Sport allerdings kein Publikum. Es genügt ihm, wenn er selbst mit den Figuren zufrieden ist und sich gut trainiert fühlt. Außerdem liegt ihm natürlich das Wohlergehen seiner beiden Pferde am Herzen.
Der 50-Jährige hat 1994 als Handwerker bei den ÖBB angeheuert und wurde dann vor 18 Jahren intern zum Busfahrer umgeschult. Einige Jahre lang war er als Chauffeur im Unterland unterwegs, bevor er 2010 die Route 73/76 übernahm. Weil auch seine Lebensgefährtin mit seinen Nachtschichten gut zurechtkommt, kann er seine Tage mit all dem füllen, was ihm wichtig ist. Auch seine drei Enkel wissen es zu schätzen, dass es beim Opa und der Uroma immer viel Spannendes zu erleben gibt.