Im Sonnengarten: „Wir sind eine große Familie.”

Ein altes Haus in Bludenz-Brunnenfeld, bunte Glasluster an den Decken, farbenfrohe Möbel, die sich an keine „kindgerechten” Normen halten. Der Sonnengarten hat auf den ersten Blick nichts mit einer zeitgemäßen Bildungseinrichtung zu tun. Auch die Methode, mit der die 70 Kinder und Jugendlichen dort aufs Leben vorbereitet werden, lässt sich nicht so leicht einordnen. Leiterin Mag. Dr. Anja Dreier und ihr Team setzen auf „MITANAND © –  in Vielfalt wachsen.”

FOTOS: CHRISTA ENGSTLER

Mag. Dr. Anja Dreier hat vor acht Jahren den Sonnengarten gegründet.

Ihre Kindergartenkinder und Schüler kommen aus dem ganzen Land. „Es sind Kinder und Jugendliche, die anders sind, hochsensibel, kreativ im Handeln, Denken und Tun, die mehr Raum brauchen, oder deren Eltern nach anderen pädagogischen Richtungen und Unterrichtsmethoden suchen,” erklärt die Direktorin. Manchen wurden Diagnosen wie ADS, ADHS oder Wahrnehmungsstörungen aufgedrückt, andere bedrückt die Trennung der Eltern, sie leiden selbst an einer chronischen Krankheit oder erleben mit, wie ein geliebter Mensch eine solche zu ertragen versucht. Als Pädagogin und Psychologin hat sich Anja Dreier jahrelang bemüht, Kinder mit individuellen Bedürfnissen in bestehenden Systemen zu begleiten – und zunehmend erkannt: „Es ist schwierig, ihnen wirklich das zu geben, was sie brauchen.” Und sie weiß, wovon sie spricht. „Ich war selbst so ein hochsensibles Kind, hatte aber zum Glück immer Lehrer, die das verstanden haben”, denkt sie gerne an ihre Schulzeit in Nüziders zurück. Trotzdem: „Als meine älteste Tochter vier/fünf Jahre alt war, wusste ich, ich will sie nicht in eine Regelschule schicken.” Anja Dreier will dies nicht als Kritik verstanden wissen, ist jedoch überzeugt: „Jedes Kind ist sensibel, aber manche kommen mit dem Lärm in großen Gruppen, dem Druck und einem streng verfolgten Lehrplan einfach nicht zurecht.” Für ihre Tochter wünschte sie sich deshalb eine Schule, die auf Beziehungen aufbaut, in der sie aus Alltagssituationen und mit allen Sinnen lernen kann.

Vereinsgründung 2009

Gesagt, getan. Anja Dreier konnte andere Eltern für diese Idee begeistern, fand im ehemaligen Gasthof Sonne in Bings ein Gebäude, in dem für die damals 15 Schüler und acht Kindergartenkinder entsprechende Räumlichkeiten geschaffen werden konnten. Im September 2009 gründete sie einen Verein, ein Jahr später wurde der Sonnengarten eröffnet. Die Eltern mussten ihre Kinder damals von der Schule ab- und für den häuslichen Unterricht anmelden und sämtliche Kosten selbst tragen. Obwohl Anja Dreier und ihre Mitstreiter auch damals schon auf großzügige Sponsoren zählen konnten, war dies kein leichtes Unterfangen. „Einige Eltern sind dann nach einem Jahr aus finanziellen Gründen abgesprungen,” erinnert sich die Schulleiterin an diese schwierige Anfangsphase zurück. Entsprechend erleichtert war sie, als mit Beginn des Schuljahrs 2013/14 das Land zusagte, einen Teil der Lohn- und Lohnnebenkosten zu übernehmen. Wegen des großen Zulaufs war es 2012 bereits nötig geworden, ein neues Quartier am heutigen Standort zu beziehen.

Gelernt wird in der kleinen Gruppe.

Ihre Volks- und Mittelschüler mussten damals jeweils am Ende des Schuljahrs im Rahmen einer Externistenprüfung unter Beweis stellen, dass sie auch wirklich anständig gelernt hatten. Möglicherweise hatte der erreichte Notendurchschnitt von 1,3 Einfluss darauf, dass der Schulträgerverein Marienberg den Sonnengarten 2015 unter sein Dach nahm. Seither ist der Sonnengarten eine katholische Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht. Die Pädagogen dürfen nun selbst Zeugnisse ausstellen, die es den Schülern erlauben, problemlos an andere Schulen zu wechseln. Ein Teil der Lehrer wird vom Land bezahlt. „Drei Lehrpersonen werden aber immer noch privat finanziert, das ist schon happig”, hat das Sonnengarten-Team weiterhin finanzielle Sorgen. „Und für unsere Zusatzangebote gibt es null Förderung.” Dabei sind es genau diese Dinge, die dem Sonnengarten Schüler und Kindergartenkinder aus dem ganzen Land bescheren: Reittherapie, psychologische Begleitung, tiergestütztes Lernen, individuelle Lernbegleitung, viel Zeit und Raum für jeden Einzelnen. „Wenn Stunden und Budgets plötzlich gestrichen werden, kommt man persönlich schon an seine Grenzen”, ist Dr. Anja Dreier froh, dass ihr die Schulbehörden prinzipiell wohlgesonnen sind und auch Kinder und Jugendliche schicken, die in anderen Bildungseinrichtungen schwer ihren Platz finden. „Es gibt zum Glück immer wieder Menschen, die uns unterstützen. Finanziell, aber auch moralisch,” ist sie sehr dankbar.

Haltung zum Kind ist die Richtschnur
Die Begegnung mit Tieren wird im Sonnengarten aktiv gefördert. Das „tiergestützte Lernen” ist bei
den Kindern besonders beliebt.

Vor allem aber ist es die Freude, „zu sehen, dass die Saat aufgeht”, welche ihr tagtäglich die Energie gibt, weiterzumachen. „Das geht uns allen so, das ganze Team, die Eltern, alle arbeiten sehr engagiert mit.” In ihrem „Haus der freien Entwicklung geht es nicht darum, eine spezielle pädagogische Methode bis ins Detail zu verfolgen. Die Pädagogen haben höchst unterschiedliche Ausbildungen und Lehrkonzepte. Das A und O im Sonnengarten ist jedoch die Haltung zum Kind. „Begleiten statt erziehen”, „Betreuen statt kontrollieren” oder „Authentisch sein im Sinne von sich selbst spüren” sind Grundsätze, an die sich alle halten. „Achtsamkeit gegenüber Mensch, Tier und Natur”, „Konsequente und respektvolle, gut durchdachte Autorität”, „Ganzheitliche Kreativität und Arbeit mit den Sinnen” sowie „Lebensnahes und lebenspraktisches Arbeiten in familienähnlichen Gruppen” sind die vier Pfeiler, welche die Philosophie des Hauses tragen. „Aufgabe der Erwachsenen ist es nicht, Kinder zu formen, sondern ihnen Raum zu geben, dass sie sich selbst formen können. Wir dürfen sie begleiten und schützen, nicht zu etwas zwingen,” ist Anja Dreier überzeugt. „Mitanand © – in Vielfalt wachsen” nennt sie die pädagogische Ausrichtung ihrer Schule. „Wir sind auch für die Eltern in allen Nöten da”, sieht sie den Sonnengarten als große Familie, die Pädagogen als Weggefährten in jeder Situation.

Konzept baut auf Beziehungen auf
Mit Märchen, Geschichten und Rollenspielen wird so manches Thema aufgearbeitet.

Aktuell werden im Sonnengarten 40 Schüler und 32 Kindergartenkinder im Alter zwischen eineinhalb und 16 Jahren in ihrer natürlichen Entwicklung unterstützt. Ende November wurde ein neuer Trakt für die Großen eröffnet. Der Zubau war nötig, weil das Haus schon wieder aus allen Nähten platzte. „In diesem Haus haben wir nun die Höchstzahl erreicht. Doch vielleicht gibt es einmal einen weiteren Standort vom Sonnengarten,” ist Anja Dreier grundsätzlich für alles offen. Schließlich baut das pädagogische Konzept auf Beziehungen auf, die ständigen Austausch und Auseinandersetzung mit jedem Einzelnen erfordern. Alle Lehrer unterrichten in jeder Schulstufe sehr individuell mit jedem Schüler, damit sie deren Entwicklung von Anfang an verfolgen, von Anfang an einen „Draht” aufbauen können. Kindergarten, Volksschule und Mittelschule sind zwar grundsätzlich in unterschiedlichen Stockwerken untergebracht, der Kontakt untereinander wird aber ständig gesucht und aktiv gefördert, damit die Kleinen von den Großen lernen und die Großen ihrerseits Verantwortung übernehmen können.

Vertrauen aufbauen und „Pflege der Seele” 
Die Räume haben jeweils eigene Namen und verschiedenste Einrichtungsstile. Die Großen fühlen sich in der zurückhaltenderen Umgebung des neuen Zubaus wohl.

Auch der Kontakt nach außen wird gesucht. Schließlich sollen die Kinder ja an konkreten Situationen lernen. Besonders der benachbarte Bauernhof bietet hier eine Vielfalt an Erfahrungsfeldern. Anja Dreier: „Wenn a Kälble ufd Welt kunnt, holt üs dr Bur.” Nebenfächer werden generell in Form von Werkstatt-Unterricht vermittelt. Die Kinder erarbeiten sich etwa in der Wissenswerkstatt oder in der Natur verschiedenste Themen in der Gruppe gemeinsam. Berufsorientierung steht ebenfalls bereits sehr früh auf dem Stundenplan. Anja Dreier: „Die Kinder sollen so selbstbewusst werden, dass sie auch im Außen gut zurecht kommen, nachdem sie über Jahre so intensiv begleitet wurden.” Eine Sozialpädagogin ist direkt im Haus. An sie können sich die Kinder auch mit ganz individuellen Themen wenden. Das über eine lange Zeit aufgebaute Vertrauen macht es möglich, dass auch über ganz persönliche Probleme unbefangen diskutiert werden kann. Im Seelentagebuch halten die Kinder und Jugendlichen jeden Alters täglich fest, was sie bewegt – je nach Können und Laune schriftlich oder anhand von Zeichnungen. Denn die Pflege der Seele ist Anja Dreier und ihrem Team wichtiger als schnell abrufbares Wissen. Um eine Brücke zu bauen vom Außen in das Innere eines Menschen, arbeitet die Psychologin gerne mit Märchen, bei den Größeren mit philosophischen Geschichten. Mit diesen Mitteln versucht sie mit den Kindern jene Erlebnisse aufzuarbeiten, welche ihre Seele belasten und ihre natürliche Entwicklung behindern.

In einem persönlichen „Seelentagebuch” halten die Schüler tagtäglich fest, was sie bewegt.

Hochsensible Kinder sind aber nicht nur in Kindergarten und Schule eine besondere Herausforderung. Damit es auch zuhause gut läuft, sind die Pädagogen laufend in Kontakt mit den Eltern – wöchentlich, wenn dies nötig ist – und stehen ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Das angegliederte Kompetenz- und Therapiezentrum bietet Lerncoachings, psychologische Begleitung, Abklärung in Bezug auf Hochsensibilität und andere Leistungen auch Familien an, die keinen direkten Bezug zum Sonnengarten haben. Bei Seminaren, Workshops und Vorträgen sind Interessierte jederzeit willkommen.

Im Kindergarten des Sonnengarten werden Kinder ab einem Alter von eineinhalb Jahren betreut.
Das Frühjahrsprogramm bietet in dieser Hinsicht spannende Möglichkeiten:

In der Bildungsszene sorgt etwa André Stern regelmäßig für Aufsehen. Der Junge, der niemals zur Schule ging, tourt heute als gefragter Freibildungsexperte, Musiker, Gitarrenbauer, Komponist und Autor durch die Lande. Anja Dreier hat ihn für einen Vortrag im Davennasaal in Stallehr gebucht. Er wird dort am Freitag, 2. März ab 19.00 Uhr berichten, wie und warum er sich als Kind eingehend mit Mathematik, Technik, Literatur, Gitarrenbau und Sprachen beschäftigte, obwohl ihm die Eltern in dieser Hinsicht alle Freiheit ließen.

Wer sich im Sonnengarten umsehen möchte, hat dazu am Samstag, 17. März Gelegenheit. Von 11 bis 16 Uhr lädt das Team zum Frühlingsmarkt unter dem Motto „Leise blüht es” und gleichzeitig zum Tag der Offenen Tür.

Eingehender mit der Thematik beschäftigen kann man sich beim Bildungssymposium „Mitanand © mit Kindern werden, wachsen, reifen, sein…”, welches am Freitag und Samstag, 6. und 7. April direkt im Sonnengarten – Haus der freien Entwicklung über die Bühne geht. Interessierte finden im Internet unter sonnengartenwelt.at jede Menge weitere Informationen.

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