Am Anfang war das Ende

– Unter diesem Motto blicken der Nenzinger Gemeindearchivar Thomas Gamon und Mit-Kuratorin Katrin Romer auf eine Zeit zurück, in der Kinder von einem Tag auf den anderen wieder das Vaterunser beteten, anstatt mit militärischem Hitlergruß in der Schule strammzustehen, als Feinde plötzlich zu Befreiern wurden und sich der Alltag in jeder Hinsicht veränderte. Eine Ausstellung Mitte September bietet spannende Einblicke in das Leben der „Aufbruchsgeneration”. 

FOTOS: TM-HECHENBERGER, GEMEINDEARCHIV NENZING

„Wir hätten Material für drei Ausstellungen”, lacht das Kuratoren-Duo. Dabei haben Thomas Gamon und Katrin Romer nur ein einziges Jahrzehnt in den Fokus genommen und sich auf Geschehnisse in ihrer Heimatgemeinde Nenzing beschränkt. Den Anfang markiert der 4. Mai 1945, als französische Truppen durchs Dorf marschierten. Der Zweite Weltkrieg war für Hitler-Deutschland verloren, und Menschen in ganz Europa mussten sich schwer traumatisiert zusammenraufen, um wieder an eine Zukunft glauben zu können. 

 

 

„Es ist faszinierend. Die Menschen hatten
damals eine völlig andere Lebenswelt.” 

Katrin Romer,
BA, BA

 

Katrin Romer interessiert sich sehr für diese Zeit – vor allem aufgrund der Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter. Die damals 18-jährige Delphina Burtscher half im Sommer 1944 ihren beiden Brüdern Leonhard und Otto sowie ihrem Verlobten Martin, als diese nach dem Heimaturlaub nicht mehr an die Front zurückkehren wollten, sich vor den Nazis zu verstecken. Während Leonhard unentdeckt blieb, wurden Otto und Martin von der Gestapo gefasst und als Deserteure enthauptet. Delphina selbst wurde festgenommen und verbrachte nach der Geburt ihres Kindes einige Zeit in einem Gefangenenlager. Ihre Urenkelin Katrin wollte mehr erfahren und packte die Gelegenheit beim Schopf, als sie im Sommer 2021 ein Praktikum im Rathaus Nenzing absolvierte. Sie löcherte Gemeindearchivar Thomas Gamon mit Fragen, hatte der doch Delphina Burtscher als Archivar und Nachbar unterstützt, als diese im Alter von 80 Jahren ihre Lebensgeschichte niederschrieb. Dieses Buch ist bei der Gemeinde Nenzing erhältlich.

„Davor war ich zuletzt als Volksschülerin im Archiv”, freute sich die wissbegierige Studentin über Thomas Gamons Einladung, selbst in der Vergangenheit zu graben. „Uns wurde schnell bewusst, dass es nur noch sehr wenige Menschen gibt, die uns aus dieser Zeit berichten können”, erzählt der Gemeindearchivar. „Da kam es wie ein Geschenk des Himmels, dass Katrin sich als Studentin der Politikwissenschaft, Publizistik und Kommunikationswissenschaften darauf versteht, Interviews zu führen und das auch tun wollte.” Gemeinsam machten sich die beiden ans Werk. Die Forschenden wurden unter anderem von den Pflegekräften in der Seniorenbetreuung dabei unterstützt, geeignete Gesprächspartner zu finden. 

Zeitzeugen teilten ihre Erinnerungen

Seither haben Katrin Romer und Thomas Gamon mehr als zwanzig Interviews geführt und die Geschehnisse im Ort von 1945 bis 1955 akribisch rekonstruiert. Der Corona-Lockdown und später der Kriegsbeginn in der Ukraine spielten ihnen dabei in die Hände, weil er in vielen Zeitzeugen von damals Erinnerungen wachrüttelte.

„Viele waren fassungslos, weil sie dachten, dass ein Krieg in Europa nie mehr möglich wäre”, erklärt Thomas Gamon. Es fasziniert ihn immer noch, dass einige seiner Gesprächspartner den 4. Mai 1945 als „Tag der Befreiung” titulierten, während andere vom „Tag der Besatzung” sprachen. Genau dies spiegelt für ihn aber auch die Kluft wider, welche sich damals zwischen Nachbarn und auch innerhalb von Familien aufgetan hatte. Einige erzählten von der Propaganda, der sie laufend ausgesetzt waren und wie sich dann etwa die marokkanischen Soldaten – vor denen vor allem die Frauen gewarnt worden waren – als hilfsbereit und freundlich entpuppten. 

Die Fahne des Nenzinger Radfahrervereins wurde in der Nachkriegszeit von einem französischen Soldaten als Andenken mitgenommen. Der Dieb hat dies aber bereut und sie Jahrzehnte später mit einem Entschuldigungsschreiben zurückgeschickt.

In Nenzing gab es während des Krieges keine Attentate, Sprengungen oder Bombenabwürfe, sehr wohl aber Frauen, die um ihre Brüder, Söhne oder Männer trauerten, Zerwürfnisse, Ungerechtigkeiten, Hunger, Fanatismus,… „Das Erlebte wurde nicht mit Psychologen aufgearbeitet, man redete nicht mehr darüber und arbeitete weiter”, haben Katrin Romer und Thomas Gamon aus erster Hand erfahren. „Mein Papa hat auch nie etwas erzählt. Das hat mich immer gestört”, erinnert sich der Gemeindearchivar. „Aber vielleicht braucht es dieses Schweigen, um neu anfangen zu können.”

Dekan Georg Schelling, der als Journalist, Chef des Vorarlberger Volksblatts und NS-Kritiker selbst sieben Jahre lang in Dachau interniert war, habe in Nenzing einiges dazu beigetragen, dass die Menschen im Ort wieder zueinander fanden. „Er lud deklarierte Nazis zu seinen Gottesdiensten ein und sie kamen”, berichtet Thomas Gamon voller Bewunderung.

„Ratternde Motoren künden von einer neuen Zeit.”

Stolz auf das moderne Fortbewegungsmittel:
Der Radfahrerverein Nenzing im Jahr 1927.

Diese zehn Jahre, über welche er und seine Mit-Kuratorin so viel wie möglich erfahren wollten, wurden aber nicht nur von den Nachwehen des Krieges geprägt. Denn die „Wirtschaftswunderjahre” brachten auch eine zunehmende Modernisierung und Motorisierung. „Ratternde Motoren künden von einer neuen Zeit” jubelte etwa das Vorarlberger Volksblatt, als die ersten Jeeps ins Gamperdonatal brausten. Bis 1954 marschierte Frächter Florinus Meier die 32 Kilometer lange Strecke täglich ab. Mit dem „Gamperdonawägele”, das von einem Pferd gezogen wurde, transportierte er alle benötigten Güter in den Himmel der Nenzinger. 

„Bei mir kommen da viele Erinnerungen hoch”, bekennt Thomas Gamon. Er hat noch vor Augen, wie seine Mutter die Wäsche von Hand schrubbte, dass der Herd in der Küche den ganzen Tag glühte, während es in den anderen Zimmern während der Wintermonate bitterkalt war. „Es gab kaum Autos, Hosen für Frauen waren tabu, Kinder hatten höchstens ein paar Holzklötze und eine Puppe zum Spielen, es wurde viel weniger Fleisch gegessen”, ergänzt Katrin Romer. Als Repräsentantin der jungen Generation sind ihr viele Dinge aufgefallen, die für den Gemeindearchivar ganz normal waren. „Wir ergänzen uns in dieser Hinsicht optimal”, schätzt jedes Mitglied des Duos die Perspektive des jeweils anderen. Und sie sind sich einig: Trotz dieser im Vergleich zu heute spartanischen Lebensumstände äußerten sich die Zeitzeugen im Blick zurück zufrieden. „Wir hatten nicht viel. Aber es hat gereicht”, lautete der einstimmige Tenor bei den Interviews. Nicht selten wurde sogar ein „Mir tun die jungen Leute von heute leid” an diese Aussage angehängt. Mit fünf Kühen konnte man damals immerhin eine Familie ernähren. Das wäre heute unmöglich. Sonntags gingen die Frauen um sieben Uhr früh zum Gottesdienst, damit mittags ein dreigängiges Menü auf dem Tisch stand.

Die Männer und die Kinder besuchten die 10-Uhr-Messe und versammelten sich danach am Dorfplatz, wo der „Gemeindewaibel” die neuesten Nachrichten verlas. Die wurden später im Wirtshaus diskutiert. Die Bewohner abgelegener Parzellen nutzten den Weg ins Dorf gleich für den Wocheneinkauf. 

„Die Gemeinde hatte damals unter anderem auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass genügend Lebensmittel für alle verfügbar waren”, berichtet Thomas Gamon. Wenn etwa eine schlechte Obsternte drohte, wurde in anderen Regionen rechtzeitig bestellt. In der Gemeindemühle an der Meng konnten die Nenzinger bis zum Jahr 1955 das selbst geerntete Getreide mahlen lassen. Jede Familie im Ort bekam zudem zwei Äcker zugeteilt, auf denen sie Gemüse anbauen konnte. „Gemeinschaftsgärten, wie sie jetzt wieder in Mode kommen, gab es also schon damals”, lacht Thomas Gamon. „Ansonsten hat sich das Leben der Menschen aber in allen Bereichen verändert.” Die Ausstellungsmacher wollen speziell auch den Frauen eine Stimme geben und einen sehr aktuellen Aspekt nicht ausklammern: Bis in die 50er-Jahre haben die Menschen keinen Müll produziert. Alles wurde wiederverwertet. „Erst danach haben wir angefangen Wegwerfprodukte in großen Mengen zu produzieren”, ortet Thomas Gamon den Ursprung für wachsende Müllberge und Umweltprobleme in genau dieser Zeitspanne. 

Diesen rasanten Wandel innerhalb nur weniger Jahre möchten Katrin Romer und Thomas Gamon mit ihrer Ausstellung im Wolfhaus sichtbar machen. Stolz präsentieren sie Gegenstände, welche die Jugend von heute kaum mehr kennt – von der mechanischen Briefwaage bis zum Spinnrad, dem Flözerhaken und zum – damals höchst modernen – Telefon mit massiver Wählscheibe. 

All die Geschichten, welche die beiden im Rahmen ihrer Interviews gehört haben, hat Katrin Romer transkribiert und in informativen Kurztexten zusammengefasst. Grafikerin Ingrid Kornexl verpasste der Ausstellung ein optisch ansprechendes Gesicht.

Die Ausstellung „Am Anfang war das Ende” wird am Donnerstag, 14. September um 20 Uhr im Wolfhaus eröffnet. Sie ist dann bis 28. September jeweils am Montag und Mittwoch von 14 bis 17 und von 18 bis 20 sowie am Freitag und Sonntag von 18 bis 20 Uhr geöffnet. Am Sonntag, 17. September haben Interessierte ab 20 Uhr Gelegenheit, im Rahmen eines „Erzählabends” weitere interessante Aspekte zum Thema beizusteuern. Am 20., 22., 24. und 27. September jeweils ab 20 Uhr werden Filme gezeigt, die zusätzliche Einblicke in das Leben der „Aufbruchsgeneration” bieten. Die Finissage steht am Donnerstag, 28. September von 18 bis 20 Uhr auf dem Programm. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei. 

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