Sie schlafen momentan noch – zu einer Kugel zusammengerollt und eng aneinander gekuschelt – in ihren Höhlen tief unter der Erde und wärmen sich gegenseitig. Das Überleben von Murmeltieren hängt stark vom Zusammenhalt der Truppe ab.
FOTOS: GERALD SUTTER, MANUEL NARDIN
Während sich in den Tälern schon bald eine erste Ahnung vom kommenden Frühling breitmacht, herrscht oberhalb der Baumgrenze noch tiefer Winter. Gräser und Kräuter werden dort noch länger nicht sprießen. Doch die Murmeltiere im Nenzinger Himmel oder im Saminatal werden ihren Winterschlaf ohnehin erst Ende März/Anfang April beenden. Sie schlafen rund sieben Monate – ganz unabhängig davon, ob der Winter wärmer oder kälter ausfällt, kürzer oder länger dauert.
Kälte kann dem Alpenmurmeltier kaum etwas anhaben. Es gehört zu den wenigen Arten, die sich seit der letzten Eiszeit kaum verändert haben. Damals waren diese Verwandten des Eichhörnchens in ganz Europa bis in die Täler weit verbreitet. Doch als sich die Gletscher vor rund 10.000 Jahren zurückzogen, bedeutete dies beinahe das Ende dieser Art. Nur wenige Exemplare überlebten. Sie zogen sich in unwirtliche Gegenden oberhalb der Baumgrenze zurück, um Hitzestress möglichst zu vermeiden. Die heute lebenden Tiere stammen allesamt von diesen Ahnen ab. „Entsprechend gering ist die genetische Vielfalt”, erklärt Biologin Johanna Kronberger. Dies birgt nicht nur die Gefahr, dass sich Krankheiten vererben. Außerdem können sich genetisch verarmte Arten – zu denen unter ganz anderen klimatischen Bedingungen etwa auch der Gepard zählt – schlechter an kurzfristige Veränderungen ihrer Umwelt anpassen. Wird das Klima also noch wärmer, werden die Lebensräume für das Murmeltier weiter schrumpfen.
Murmeltiere bevorzugen kurzgrasige Almwiesen mit tiefgründigem Boden – einem idealen Untergrund für die weitläufigen Tunnelsysteme, in denen bis zu zwanzig Tiere gemeinsam leben. Mit ihren starken Pfoten graben sie eine Vielzahl an kurzen Fluchttunneln, die ihnen Schutz vor Feinden bieten und ein kühles Sommer-Domizil, in das sie sich an heißen Tagen auch tagsüber zurückziehen. Die meiste Grabarbeit wird aber in eine sichere Winter-Höhle investiert, deren Eingänge im Herbst mit Erde, Halmen und Kot fest verschlossen werden. Murmeltiere verbringen mehr als die Hälfte des Jahres bis zu sieben Meter unter der Erdoberfläche in einem Zustand der Starre.
Während ihres Winterschlafs sinkt die Körpertemperatur der Tiere gegen null Grad. Eigentlich würde das Herz eines Säugetiers bei solchen Temperaturen aufhören zu schlagen. Doch Murmeltiere sind gewappnet. Anstatt wie im Sommer 80 bis 140 mal, schlägt ihr Herz im Winterschlaf nur noch vier bis fünf Mal pro Minute. Die Atmung verlangsamt sich von 50 bis 120 Atemzügen auf weniger als einen pro Minute. Die Tiere fahren ihren gesamten Stoffwechsel auf etwa ein Hundertstel des Sommerniveaus herab. Im Idealfall haben sie sich dafür in den warmen Monaten eine ordentliche Fettschicht angefuttert, von der sie nun über eine lange Zeit zehren müssen. Während sie im Frühjahr auch an zarten Wurzeln knabbern, werden die Tiere im Verlauf des Sommers wählerisch: Alpenklee, Labkraut, Mutterwurz, Alpen- und Berg-Wegerich weisen einen besonders hohen Anteil an Nährstoffen und ungesättigten Fettsäuren wie etwa der Linolsäure auf, die anscheinend für einen ungestörten Winterschlaf besonders wichtig sind.
Alle zwei Wochen „Klopause”
Trotzdem: Rund alle zwei Wochen wacht das dominierende Männchen auf und weckt nach und nach alle Bewohner des Baus. Der Grund für dieses Ritual ist nicht ganz klar. „Eine mögliche Erklärung ist, dass es sich um eine simple Klopause handelt”, erklärt Johanna Kronberger. „Bei der Verbrennung der Fettreserven entsteht Wasser. Dieses müssen sie ebenso wie Giftstoffe regelmäßig entsorgen.” Untersuchungen belegen eindeutig, dass die Tiere in dieser Aufwachphase die eigens eingerichtete „Latrinenhöhle” aufsuchen. Andere Studien gehen davon aus, dass die Verbindungen zwischen den Nervenzellen in dieser Phase regelmäßig wiederhergestellt werden müssen oder sogar, dass sie diese Phase nutzen, um tatsächlich zu schlafen. Der Winterschlaf und speziell auch diese Unterbrechungen sind für die Murmeltiere jedenfalls äußerst kräftezehrend. Während des Winters verlieren sie denn auch rund ein Drittel ihres Herbstgewichts. Sie überleben nur, indem sie möglichst eng zusammenrücken und sich gegenseitig wärmen. Deshalb werden manchmal auch Jungtiere anderer Familien im Bau geduldet, wenn sie im selben Alter wie die eigenen Nachkommen sind. Ansonsten herrschen aber strenge Sitten in der Murmeltierfamilie.
Nur das dominante Weibchen darf Junge zur Welt bringen. Vater der Nachkommen ist meist, aber nicht immer, das dominante Männchen. Die anderen Weibchen im Familiengefüge werden zwar manchmal ebenfalls begattet. Das dominante Weibchen versetzt sie mit seinem aggressiven Verhalten aber derart unter Stress, dass die Embryonen vom Körper absorbiert werden oder abgehen. Trotzdem verlassen die Jungtiere erst nach drei, vier Jahren, manchmal sogar noch ein, zwei Winter später den Schutz der Herkunftsfamilie. Denn es ist gefährlich, sich nach einem neuen Territorium umzusehen. Der Steinadler wartet nur darauf, ein „obdachloses” Murmeltier zu erlegen. Auch ist der nächste Winter ohne die Wärme des Familienclans nur äußerst schwierig zu überstehen.
Bestände im Gamperdonatal sind stabil
Obwohl der Wohnortwechsel meist friedlich abläuft, kommt es im Mai durchaus auch zu Revierkämpfen unter den Murmeltier-Männchen, bei denen es ganz schön brutal werden kann. „In dieser Zeit sind die Tiere auch dort anzutreffen, wo man sie sonst nicht vermutet”, weiß Manuel Nardin. Er ist seit mehr als neun Jahren Berufsjäger im Gamperdonatal. Dort hat er schon Murmeltiere im Wald beobachtet, obwohl diese normalerweise freie, sonnige Almwiesen bevorzugen. Einzelgänger hat er sogar schon in den höhergelegenen Siedlungsgebieten von Frastanz und Nenzing gesichtet. Im „Himmel” sind die putzigen Nager von der Alpe Vals bis hinauf in große Höhen derart zahlreich, dass sie mit ihren Bauten auch schon mal an den Fundamenten der Ferienhäuser rütteln.
In Vorarlberg sind Murmeltiere vom 16. August bis 30. September zur Jagd freigegeben. Doch man muss schon ein guter Schütze sein, um die flinken Tierchen zu erwischen, die sich in der Regel nie weit von ihren Fluchttunneln entfernen. Außerdem ist jedes Mitglied des Familienverbandes auf der Hut. Mit einem einzelnen schrillen Pfiff warnen sie ihre Artgenossen vor einer unmittelbaren Gefahr wie etwa einem Steinadler im Angriffsflug. Wenn es nicht sicher ist, ob sie sich vor der sich nähernden Gestalt – Mensch oder Fuchs beispielsweise – besser in Sicherheit bringen, löst dies eine Serie von kurzen Pfiffen aus. „Gejagt werden Murmeltiere im Nenzinger Himmel nur nachhaltig und in geringem Ausmaß, hauptsächlich dort, wo sie durch zu starke Grabaktivitäten übermäßige Schäden an den Alpflächen verursachen”, erklärt Manuel Nardin, „und jedes erlegte Murmel wird verwertet.” Abgesehen von natürlichen Schwankungen sind die Bestände im Gamperdonatal stabil. Diese Eiszeit-Relikte gelten in Vorarlberg nicht als gefährdet, obwohl Murmeltierfett seit jeher als Heilmittel gegen verschiedenste Wehwehchen gilt. Das Fleisch ist ebenfalls beliebt. „Es muss zwar ewig gekocht werden, soll aber eine Delikatesse sein”, erklärt Johanna Kronberger, die einen Jagdschein besitzt, aber nicht aktiv als Jägerin in Erscheinung tritt. Im Nenzinger Himmel kommt die intensive Alpwirtschaft den Nagern zugute. Denn durch den Kot der Kühe sind die Wiesen mit Nährstoffen gut versorgt, sodass eine Vielzahl an Kräutern gedeihen, die den Murmeltieren dabei helfen, den Winter gut zu überstehen. Die große Fressorgie beginnt, sobald der Schnee geschmolzen und die Paarungsrituale absolviert sind.
ALPENMURMELTIERE (MARMOTA MARMOTA)
… werden in der Regel bis zu drei Kilo schwer und 40 bis 50 Zentimeter groß. Der Schwanz eines ausgewachsenen Tieres misst zehn bis zwanzig Zentimeter. Ihren sechs bis sieben Monate dauernden Winterschlaf beginnen Murmeltiere im September/Oktober. Nach dem Aufwachen im April geht es für rund zwei Wochen um die Paarung, wobei allerdings nur das dominante Weibchen einer Gemeinschaft nach knapp fünf Wochen bis zu sechs nackte, taube, zahnlose und blinde Junge zur Welt bringt. Sie wiegen nach der Geburt etwa 30 Gramm und werden 40 Tage lang gesäugt, bis sie etwa 250 Gramm schwer sind. In den nächsten Monaten geht es vor allem darum, sich rasch eine dicke Speckschicht anzufressen. Die Jungen bleiben normalerweise drei, manchmal aber auch bis zu sechs Jahre in ihrer Herkunftsfamilie. Danach ziehen sie aus, um ein eigenes, rund 2,5 Hektar großes Territorium zu erobern und eine Familie zu gründen. In dieser Wanderzeit fallen sie oft ihrem größten Fressfeind – dem Steinadler – zum Opfer. Junge Tiere laufen außerdem Gefahr, von Füchsen verspeist zu werden. Trotz ausgeklügelter Strategien gegen die Kälte überleben vor allem Jungtiere oder geschwächte Weibchen den Winter oft nicht. Prinzipiell können Alpenmurmeltiere bis zu zwölf Jahre alt werden.