Sie wollten dem Militärdienst, bitterster Armut oder der Arbeit in der Fabrik entgehen, sahen keine Perspektive oder wurden von ihrer Heimatgemeinde verschickt. Die Gründe, warum vor allem im 18. und 19. Jahrhundert zahlreiche Walgauer ihr Glück anderswo suchten, sind vielfältig. Geschichtsinteressierte aus der Region sind den Schicksalen der Auswanderer nachgegangen und haben in den letzten zweieinhalb Jahren viele spannende Geschichten aufgearbeitet. Am 21. März wird die Wanderausstellung der Regio Im Walgau erstmals eröffnet.
FOTOS/QUELLEN: GEMEINDEARCHIV NENZING UND FRASTANZ, HEIMATBUCH LUDESCH, TM-HECHENBERGER
Heute sind die Stadt Bludenz und die Walgaugemeinden ein beliebtes Ziel von Einwanderern. Doch das war nicht immer so. Acht von hundert Walgauern suchten in den Jahren 1700 bis 1914 das Weite. Der Schlinser Gemeindearchivar Dr. Dieter Petras hat diese für seine Doktorarbeit akribisch erfasst und auch so manche Geschichte dahinter aufgespürt. Im Rahmen des Regio-Projektes konnten er und Projektleiter Mag. Christof Thöny auch andere dafür begeistern, sich mit den Schicksalen dahinter genauer auseinanderzusetzen.
Eine davon ist Herlinde Hummer. Die Nenzingerin war von Dr. Petras’ Ausführungen derart fasziniert, dass sie sich spontan zur Mitarbeit entschloss. Sie beschäftigt sich schon länger mit Ahnenforschung. „Das ist wie eine Sucht”, gibt sie zu. Dieses Hobby hat ihr zudem die Bekanntschaft mit Lydia Galvan und Hector Gabriel beschert, die mit ihr über viele Ecken verwandt sind. Das besondere daran: Die Geschwister sind in Uruguay geboren und sprechen nur spanisch. Als diese aber im Sommer 2011 in Österreich auf Urlaub waren, fragten sie im Rathaus Frastanz nach, ob es noch Nachfahren von jenem Adolfo Gabriel gibt, der 1879 nach Uruguay ausgewandert war. „Sie haben sich in Wien ein Auto ausgeliehen und sind den ganzen Weg nach Frastanz und wieder zurück gefahren, nur um uns zu treffen”, hat Herlinde Hummer die zweistündige Plauderstunde, für die ein Übersetzer gebraucht wurde, als sehr bewegend in Erinnerung. Der Frastanzer Ahnenforscher Wolfram Gabriel, der diese Linie bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt hat, sowie der ebenfalls verwandte Gemeindearchivar Mag. Thomas Welte konnten den Besuchern aus Uruguay viele Details zu ihren Wurzeln liefern.
Im Gegenzug berichteten die Südamerikaner darüber, wie sich ihr Urgroßvater in der deutschsprachigen Siedlung Nueva Helvetia niederließ, heiratete und sich die Familie – auch aufgrund ihres handwerklichen Geschicks – hocharbeitete. „Es ging nicht immer alles glatt”, ist Herlinde Hummer etwa eine schlimme Dürre in Erinnerung, welche die Gabriels in Uruguay an den Rand des Ruins brachte. Außerdem berichteten die Besucher von hunderte Kilometer langen Fußmärschen, aber auch von Pionierleistungen im Reisanbau. Ein von einer Dampfmaschine angetriebenes Gerät zur Bewässerung, welches von ihrem Vorfahren Andreas Gabriel entwickelt wurde, stehe heute noch am Dorfplatz, hat Herlinde Hummer erfahren. Die Nenzingerin hat daraus die Lehre gezogen, dass man es überall schaffen kann, „wenn man sich wirklich anstrengt und beim Neuanfang unterstützt wird.” In Uruguay erhielten Einwanderer damals nämlich Grund und Boden geschenkt.
Nicht alle hatten Glück
Doch nicht alle Walgauer Auswanderer hatten so viel Glück. „Rund 80 Prozent sind gescheitert”, schätzen die Projekt-Mitarbeiter aufgrund ihrer Recherchen. Die Geschichte einer Göfnerin ging Herlinde Hummer beispielsweise sehr nahe. Die Frau war bereits wieder auf dem Rückweg über den Atlantik, als sie „vom Schiff ging.” Einer Mitreisenden soll sie zuvor ihr Herz ausgeschüttet und von „unglaublich schlechten Erfahrungen mit Männern” berichtet haben. Auch ein Ludescher, der im „Wilden Westen” von Indianern erschossen wurde, oder Goldgräber, die elendiglich zugrunde gingen, sind im Zuge der Recherchen aufgetaucht.
„Die meisten Auswanderer sind in der Gosse gelandet oder gestorben”, ist der Nenzinger Gemeindearchivar, Thomas Gamon, überzeugt. – Zumal viele der Heimat gar nicht freiwillig den Rücken kehrten. Denn: „Wer persona non grata war, wurde verschickt.” So mancher Aufsässige, Wilderer, Rüpel, Schmuggler oder Deserteur – damals musste man für vier Jahre beim Militär einrücken – erhielt von seiner Heimatgemeinde ein Gratis-Ticket nach Amerika.
Von den meisten dieser Auswanderer verlieren sich die Spuren völlig – unter anderem auch, weil viele von ihnen des Schreibens gar nicht mächtig waren.
Johann Rauch aus Nenzing – er war aus wirtschaftlichen Gründen ausgewandert, weil er mit seinem mageren Gehalt als Lehrer, Organist und Kirchenchor-Leiter seine Familie kaum ernähren konnte – berichtete in seinen Briefen in die Heimat, dass er sich oft für seine Landsleute schäme, die nicht lesen, schreiben und rechnen konnten und sich mit allerlei Tricksereien über Wasser hielten. Als „Gauner sondergleichen” schilderte er etwa einen Dornbirner, der mit illegalen Schnapsgeschäften und guten Verbindungen zu Reichtum und Ansehen gelangt war, obwohl er den Staat um 200.000 Dollar betrogen und deswegen vor Gericht gelandet war. „Da sieht man, was in Amerika aus einem Gauner alles werden kann”, schilderte er den Daheimgebliebenen. Er selbst freute sich, dass er hier in einem Monat verdiene, was er zuhause in einem Jahr an Lohn erhielt. „Solche Berichte der Auswanderer wurden hierzulande natürlich mit großem Interesse aufgenommen und haben so manchen animiert, ebenfalls sein Glück zu versuchen”, erklärt Thomas Gamon. Schließlich lag daheim einiges im Argen.
„Die wirtschaftlichen Verhältnisse in fast ganz Europa, besonders aber in Österreich sehen wirklich trostlos aus. Die Lebensmittel Preise und alle andern Produkte steigen unaufhaltsam von Tag zu Tag ins fabelhafte, so daß diejenigen, welche keine eigenen Erzeugnisse haben, sehr schwer um ihr ehrliches, notdürftiges Fortkommen zu kämpfen haben. Wie ich schon früher geschrieben habe, stehen hier die Bauern, Schmuggler und Schieber am besten. […] Das einzig Gute in Frastanz ist für diejenigen, welche nicht mit der Bauernschaft od. mit Schmuggel und Schieberei beschäftigt sind, daß die 2 Fabriken ‚Spinn- u. Weberei‘ und die „Papierfabrik“ gut gehen, und ordentliche Löhne bezahlen, die jedoch mit den täglich steigenden Preisen der Lebensmittel u. aller andern Bedarfsartikel in keinem Verhältnis stehen.” So schilderte 1921 der ehemalige Vorsteher und Wirt der „Sonne” in Frastanz, Martin Reisch, seinem Neffen Francisco Reisch die Verhältnisse. Der 81-Jährige war zu diesem Zeitpunkt an den Rollstuhl gefesselt, hatte in seiner Jugend aber selbst einige Jahre bei seinem Bruder in Uruguay verbracht. „Ich denke täglich mit Wehmut, wenn ich hilflos im Lehnsessel sitze, an die schönen Tage, die ich mit meinem Bruder Stefan, Ihrem Vater sel., in den Jahren 1867, 68 u. 69 auf der Colonie, jung, gesund und sorglos verlebte, und mit ihm ein Ziegelhaus baute, das hoffentlich heute noch steht; und mit den Ochsen Marifioso, Dunante, Nobile und Hornella pflügte und fuhrwerkte. Das waren noch glückliche Zeiten.”
Mag. Thomas Welte, der diese Unterlagen als Frastanzer Gemeindearchivar aufgearbeitet hat, weiß auch, warum Stefan die Heimat verließ. Er wollte nämlich mit seinen Brüdern Kaspar und Heinrich in Frastanz eine Getreide- Säge- und Ölmühle errichten. „Dieses Bauvorhaben dürfte aber am Widerstand der Wasserrechtsbesitzer ebenso wie am Widerstand der anderen Mühlebesitzer gescheitert sein.” Gemeinsam mit seinem Bruder Heinrich reiste er jedenfalls am 19. März 1862 Richtung Uruguay ab.
Flucht nach Italien
Wenig Wahlmöglichkeiten hatte die Ludescherin Antonia Matt. Sie war ohne Beine und Füße geboren worden. Obwohl sie sehr begabt war, konnte sie in der Region keine Lehrstelle finden und auch eine Ausbildung an einer höheren Schule wurde ihr verwehrt. Dabei war der damalige Landeshauptmann persönlich nach Ludesch gekommen, um der armen Familie anzubieten, dass er der Tochter einen Platz in einer Privatmädchenschule oder in einem Institut in der Landeshauptstadt vermitteln werde. Einzige Bedingung: Der Ludescher Gemeinderat solle ihm bestätigen, dass das körperlich behinderte Mädchen geistig normal sei. Die Verantwortlichen versagten dieses Zeugnis damals mit folgender Begründung: Antonia sei keine Prinzessin, es gebühre ihr keine bessere Ausbildung wie den anderen Kindern in der Gemeinde. Sie selbst seien ja auch nicht in der Lage, ihre Kinder auf eine Privatschule zu schicken…
Antonia Matt fand später über die Initiative von Kurgästen aus Frankfurt in Innsbruck eine Arbeit als Schaustelldame. Doch als sie endlich selbstbestimmt leben konnte, wurde sie im Heimatort wegen eines angeblich liederlichen Lebenswandels verleumdet. Der örtliche Pfarrer erhielt den Auftrag, die „moralisch gefährdete” Mitbürgerin wieder nach Hause zu holen. Einige Monate fügte sich die junge Frau, bevor sie wieder Kontakt zu der Schaustellerfamilie aufnahm und mit deren Hilfe nach Italien flüchtete. Dieser Einstieg ins Showgeschäft führte sie 1901 nach Amerika, wo sie sechs Jahre später den aus Dresden stammenden Schauspieler Johannes Günther heiratete. Das Paar zog durch die ganze Welt. Nach dem Tod ihres Gatten heiratete Antonia Matt ein zweites Mal und setzte sich schlussendlich in Dresden zur Ruhe.
Diese und viele weitere Geschichten wurden für die Ausstellung aufbereitet, die nun am 21. März um 20 Uhr im Wolfhaus in Nenzing erstmals präsentiert wird. Auf 15 Schautafeln sind sämtliche Auswanderer erfasst und einzelne Schicksale genauer dargestellt. Außerdem wurde versucht, die Zustände, die damals viele Walgauer zur Auswanderung bewogen, zu rekonstruieren. Die Feldkircher Grafikerin Ingrid Kornexl, eine gebürtige Frastanzerin, hat die Informationen optisch ansprechend aufbereitet.
Nach und nach wird die Ausstellung durch insgesamt elf Gemeinden ziehen. Sie wird dafür jeweils um zwei bis drei Tafeln ergänzt, die sich speziell mit den Auswanderern aus dem jeweiligen Standort befassen. Begleitend dazu stehen das ganze Jahr über Lesungen und Theater-Projekte auf dem Programm.
Projektleiter Mag. Christof Thöny hofft, dass die Auswanderer-Geschichten bei den Besuchern nicht nur gut ankommen, sondern diese auch selbst dazu animieren, auf den Dachböden zu kramen. „Leute, die etwas wissen, sollen sich unbedingt bei uns melden”, hofft der Bludenzer Stadtarchivar, dass das Projekt dazu beiträgt, wertvolle Erinnerungen an vergangene Zeiten der Nachwelt zu erhalten.
Die Ausstellung „Auswanderungsgeschichten aus dem Walgau” wird am Donnerstag, 21. März um 20.00 Uhr im Wolfhaus eröffnet. Sie ist außerdem an folgenden Terminen frei zugänglich:
SO 24. und 31. März, 18.00 bis 20.00 Uhr
DI 26. März und 2. April, 17.00 bis 20.00 Uhr
MI 27. März, 18.00 bis 20.00 Uhr
DO 4. April, Finissage von 18.00 bis 21.00 Uhr
Lesung:
Am 27. März ab 20.00 Uhr lesen Herlinde Hummer und Thomas Gamon aus ausgesuchten Briefen von Auswanderern spannende Passagen vor.