Migration ist Normalität

Für seine Doktorarbeit hat sich Historiker Dr. Dieter Petras intensiv mit jenen Menschen befasst, die in den Jahren 1700 bis 1914 aus dem Walgau und der Stadt Bludenz auswanderten. Aus unzähligen Biografien hat er einen Schluss gezogen: Es läuft nicht immer konfliktfrei, aber „Migration ist Normalität.“

„Geschichte hat mich immer fasziniert”

Mag. Dr. Dieter Petras
Mag. Dr. Dieter Petras

Mag. Dr. Dieter Petras kommt eigentlich aus Lustenau. Um für seine Doktorarbeit vor Ort besser recherchieren zu können, übersiedelte er vor sieben Jahren kurzerhand nach Schlins – und arbeitet dort inzwischen als Gemeindearchivar die Zeugnisse der Schlinser Geschichte auf. Der 53jährige hat für seinen Traum, Geschichte zu studieren, einiges auf sich genommen. Er musste das Gymnasium nämlich aus familiären Gründen nach der Unterstufe verlassen, hat als Postbote gearbeitet, eine Fotografenlehre absolviert, als Werbe- und Industriefotograf gearbeitet. 1995 machte er die Abendmatura, schrieb sich danach an der Uni Innsbruck für das Studium der Geschichte und Politikwissenschaften ein, verlegte seinen Lebensmittelpunkt dafür in die Tiroler Hauptstadt. Im Laufe von zwei Jahrzehnten hat er es in mehreren Abschnitten bis zur Dissertation gebracht. Seit 2009 arbeitet er am Schlinser Dorfbuch mit, zahlreiche andere Publikationen hat er als Autor, Fotograf und Herausgeber begleitet. Für seine Doktorarbeit hat Dr. Petras die Lebensdaten von mehr als 3000 Menschen erfasst, die in den Jahren 1700 bis 1914 aus dem Walgau und der Stadt Bludenz ausgewandert sind.

„Wir sind stolz auf die Vorfahren, die den Mut aufbrachten, auszuwandern, begegnen aber jenen, die zu uns kommen, oft mit Abwehr.” Dr. Dieter Petras kann dies schwer nachvollziehen. Seiner Meinung nach verdient jeder, der versucht, die Lebensumstände seiner Familie zu verbessern, Respekt. Denn es sind Elend und mangelnde Perspektiven, welche die Menschen dazu treiben, ihre Heimat zu verlassen. Und es gehört Mut dazu. Dies hat er bei seinen Forschungen zur Genüge erkannt. Da gibt es etwa die Geschichte der Brüder Jakob und Michael Häusle aus Schlins. Angesichts von elf weiteren Geschwistern hatten die beiden kein Erbe zu erwarten. Wie viele andere zur damaligen Zeit suchten sie 1872 ihr Glück in Amerika. Jakob landete als Goldgräber in Deadwood, South Dakota. – Einem kleinen Städtchen, das dank Revolverhelden wie James Butler „Wild Bill” Hickock, Wyatt Earp und der resoluten Salondame „Calamity Jane” vielen Western-Fans ein Begriff sein dürfte. Oder nehmen wir Eduard Fritz aus Ludesch, der es sich in den Kopf setzte, in Afrika eine Farm aufzubauen, dann aber während des 1. Weltkriegs zwischen die Fronten geriet und alles verlor. Er fand seine zwei Frauen jeweils durch ein Inserat in einer Frauenzeitschrift, kehrte mit einer siebenköpfigen Familie nach Vorarlberg zurück, nur um Jahre später wieder auszuwandern – diesmal nach Argentinien.

„Es gehen meist die Tatkräftigen, die Optimistischen”, kann Dr. Dieter Petras mit seinen Studien belegen. 1867 fiel in Österreich-Ungarn das Auswanderungsverbot. Wer die Heimat verlassen wollte, war nicht mehr auf eine behördliche Genehmigung angewiesen. 3065 Menschen aus dem Walgau und Bludenz suchten in dem von Dr. Petras untersuchten Zeitraum das Weite. Diese Zahl ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass im Walgau um das Jahr 1800 weniger als 10.000 Menschen lebten. Durch Erbteilungen wurde es für die Menschen der Region immer schwieriger, von der Landwirtschaft zu leben. Alternativen gab es kaum.
In den Jahren 1849 bis 1867 herrschte ein besonderer Auswanderungs-Boom: Knapp acht von hundert Walgauern suchten damals in der Ferne neue Perspektiven, aus Bludenz machte sich jeder Siebente auf den Weg. Rund ein Drittel der Menschen suchten ihr Glück in der Schweiz, jeder Vierte schiffte nach Amerika ein. So mancher Handwerksgeselle baute sich außerdem in Deutschland oder Italien eine neue Existenz auf.

Aber nicht alle gingen freiwillig. „Die Gemeinden haben die Gelegenheit genutzt, um ihre Armen loszuwerden”, erklärt Dieter Petras. Wer arm und krank war, lag damals nämlich der Gemeinde, in der er oder sie das Heimatrecht hatte, auf der Tasche. Eine Zeit lang war es gängige Praxis, Auswanderungsagenten damit zu beauftragen, arme Familien nach Übersee zu verschiffen. Der Agent erhielt seinen Lohn erst, wenn die Familie am Ziel von Bord ging. Dies belegen eindeutige Verträge. „Amerika war aber ein raues Pflaster. Diese Menschen sind in den fast sicheren Tod geschickt worden”, hat Dr. Petras zahlreiche Elendsgeschichten in die Finger bekommen.
Die Gemeinde Nenzing beispielsweise  verfuhr mit den Armen rigoros. Die Gemeindekassen waren damals leer, da kaum landwirtschaftliche Flächen zur Verfügung standen. Die steilen Hänge waren schwierig zu bewirtschaften und lagen zudem auf der Schattenseite. Da waren die Gemeindeverantwortlichen froh, wenn sie ihre Probleme „verschicken” konnten. Erst durch die zunehmende Industrialisierung wandelte sich Vorarlberg vom Auswanderer- zum Einwandererland.

Auf insgesamt 400 Seiten hat Dr. Petras die Schicksale vieler Menschen aus der Region zusammengefasst, hat dafür die Archive durchforstet, behördliche Dokumente, Heirats- und Sterbebücher der Pfarren genau unter die Lupe genommen. Auch wenn ihm diese Arbeit schon 2015 den Doktortitel eingebracht hat, ist sie für ihn längst nicht abgeschlossen. In so manchen Biographien gibt es noch Lücken, die er gerne genauer ausleuchten würde.

Wer also Urkunden, Briefe, Tagebücher oder andere Zeitdokumente besitzt, welche über das Schicksal eines Walgauer oder Bludenzer Auswanderers Auskunft geben, kann sich unter Tel: 0664/1875758 oder E-Mail: dieter.petras@aon.at gerne an ihn wenden.


Eduard Fritz aus Ludesch

Ein „Schwabenkind” will nach Afrika

Es gelingt ihm 1897, sich von Marseille über Algier nach Deutsch-Ostafrika einzuschiffen. In einer Missionsstation betreibt er einen Verkaufsladen, beaufsichtigt die Köche, leitet eine Ziegelei, baut Straßen, arbeitet als Pflanzer und gibt Deutsch-Unterricht. Nach fünf Jahren erhält er vom deutschen Gouverneur und einer Siedlungsgesellschaft die Zusage, dass er 200 Hektar Land günstig erwerben kann. Einzige Voraussetzung: Er braucht eine weiße Frau. Er gibt kurzerhand ein Inserat in einer deutschen Frauenzeitung auf und kehrt 1900 zurück – verheiratet mit der 24jährigen Anna Herter von Hayingen aus Württemberg. Schon ein Jahr später stirbt seine Frau aber an den Folgen einer Fehlgeburt.
1907 schaltet er deshalb in der „Monika” eine weitere Anzeige. Gleichzeitig nimmt er in Deutschland eine Stelle beim Bau der Eisenbahn an, um sich eine Dreschmaschine und einen Lastwagen für seinen inzwischen florierenden „Buschhof” zu erarbeiten. Er heiratet die 29jährige Lehrerstochter Auguste Amberger aus Niederbayern und kehrt mit ihr nach Afrika zurück, wo er inzwischen Herr über eine Farm mit siebzig Rindern ist. Dazwischen fährt er mit seiner Familie immer wieder einmal nach Europa, um beim Bahnbau Geld zu verdienen. 1910 lässt er sich endgültig in Afrika nieder, seine Frau eröffnet einen Gemischtwarenladen. Es läuft alles gut – bis der 1. Weltkrieg ausbricht. Die Engländer nehmen ihn, seine Frau und die mittlerweile sechs Kinder als „blady Germans” gefangen. Die Familie darf in Deutsch-Ostafrika bleiben, er selbst wird nach Ägypten in ein Militärgefangenenlager verschifft. Als sie 1919 entlassen werden, schlagen sich Eduard Fritz und seine Familie unabhängig voneinander nach Deutschland durch. Seine Ansuchen um Kriegsentschädigung werden abgelehnt. Die deutschen Behörden verweisen darauf, dass er Österreicher ist, und umgekehrt. Eduard Fritz kennt „sein früher so gastfreundliches Volk” nicht wieder. Man will ihn und seine Familie nirgends haben, verweigert ihnen Lebensmittelkarten. Er schlägt sich als Färber in einer Fabrik und als Maurer beim Bau des Spullerseekraftwerkes durch. Nebenher arbeitet er als Zeitungsberichterstatter und gründet ein Unternehmen zur Herstellung von Holzbodenschuhen, die seine Tochter auf dem Feldkircher Wochenmarkt verkauft.

Als er von der deutschen Regierung doch eine Entschädigung erhält, kauft er ein Haus in Tirol, „damit sich mein Geld nicht weiter entwertet”. 1923 verkauft er das Haus und übersiedelt mit seiner Familie – Auguste ist 45 Jahre alt und erneut schwanger – nach Argentinien. Er spürt nämlich die Ablehnung der Vorarlberger Bevölkerung und befürchtet, seine „an das afrikanische Klima gewöhnten Kinder könnten nach und nach der Lungensucht zum Opfer fallen”.

Der Start in der Provinz Chaco im Norden Argentiniens ist alles andere als leicht. Die Hütte aus Wellblech, Kisten und Stroh, die der Familie als Unterkunft dient, geht in Flammen auf, als eine Kanne Petroleum explodiert. Dabei kommt das jüngste Kind ums Leben. Acht Tage später bringt Auguste ihr neuntes Kind zur Welt. Trotzdem fasst die Familie wieder gut Fuß und bringt es zu einem bescheidenen Vermögen. „Eduard Fritz stirbt in den 1950er-Jahren hochbetagt im Kreise seiner Großfamilie”, berichtet Dr. Petras. „Ich kann leider kein Spanisch und habe keine Zeit, dieser Spur weiter nachzugehen, aber wenn man ‚Fritz‘ und ‚Argentinien‘ in Google eingibt, erhält man jede Menge Treffer.”


Jakob Häusle aus Schlins

Mitten hinein in den „Goldrausch”

Jakob Häusle macht sich 1872 als 17jähriger gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Johann Michael auf den Weg nach Amerika. Er lernt schon auf dem Schiff eine zwölf Jahre alte Berlinerin kennen. Johanna Hegewald wird zehn Jahre später seine Frau. Nachdem er anfangs in einer Mine arbeitete, zieht Jakob Häusle später mit seiner Frau in die Goldgräberstadt Deadwood, wo es im Zuge des Goldrausches einige Jahre lang hoch her ging. Die beiden bleiben aber, auch nachdem sich herausgestellt hat, dass die Goldminen nicht besonders ergiebig sind. Sie haben sich inzwischen eine Farm aufgebaut – ganz nach Vorbildern in der Heimat. Ihre sieben Kinder leben später über ganz Amerika verteilt. Jakob Häusle stirbt im selben Jahr wie sein Bruder Michael 1922. Über dessen Schicksal ist nicht so viel bekannt. Er lebte tausende Kilometer von seinem Bruder entfernt in New Hampton. Auf der Suche nach ihren Vorfahren haben sich schon mehrere Amerikaner in Schlins nach dem Elternhaus der beiden erkundigt. „Zuletzt hat sich ein Mr. Tom Wong aus Washington bei mir gemeldet”, berichtet der Schlinser Gemeindearchivar. Die Freude dieses Nachfahren war groß, als innerhalb einer halben Stunde ein Foto des Elternhauses von Jakob Häusle über den Atlantik geschickt wurde.


Fotos: TM-Hechenberger, Wirtschaftsarchiv Schweiz, Gemeindearchiv Schlins

 

Aufarbeitung der regionalen Migrationsgeschichten

Die Entwicklung einer Gesellschaft wird wesentlich von den Aus- und Einwanderern beeinflusst. Während der Walgau davor ein klassisches „Auswanderer-Gebiet” war, kam es in Folge der Industrialisierung in späteren Jahren zu regelrechten Einwanderungswellen. Die Trentiner etwa haben um das Jahr 1870 als erste Volksgruppe Vorarlberg für sich entdeckt. Viele dieser damals als Arbeitskräfte Gerufenen sind geblieben, dies lässt sich an den Nachnamen vieler heute alt eingesessener Familien entnehmen. Um diese Entwicklungen zu verstehen und daraus Schlüsse ziehen zu können, wie die Rahmen-bedingungen für ein harmonisches Zusammenleben in Zukunft aussehen können, hat die Regio Im Walgau eine Forschungsarbeit in Auftrag gegeben.

Die Auswanderung aus dem Walgau in den Jahren 1700 bis 1914 wurde gezielt untersucht. Die Forschungsergebnisse sollen nach und nach Interessierten zur Verfügung gestellt werden.

„Wir sind da noch ganz offen”, erklärt Regio-Geschäftsführerin Birgit Werle. „Eine Ausstellung, ein Buch,….. alles ist möglich.” 

Die Regio würde sich freuen, wenn sich möglichst viele Menschen aus der Region an diesem Projekt beteiligen. 

Interessierte Mitdenker mit kreativen Ideen können sich im Regio-Büro in Nenzing melden (Tel.: 05525/62215-151, sekretariat@imwalgau.at). 

Außerdem wird die Regio Im Walgau noch in diesem Frühjahr ein Treffen zur Projektfindung organisieren.

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