Dr. Martin Purtscher

Mit seinen Top-Karrieren in Wirtschaft und Politik gehört Dr. Martin Purtscher zweifellos zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des Landes. Im allerhand!-Interview blickt der 88jährige Grandseigneur nur auf eindringliches Nachfragen zurück auf ein bewegtes und erfülltes Leben. Sein hellwacher Geist beschäftigt sich – nach wie vor – viel lieber mit den Herausforderungen der Zukunft. Und vor allem mit möglichen Antworten auf die großen Probleme der Zeit.

Wir geben es zu: Im allerhand! wollten wir mit Martin Purtscher einen Menschen porträtieren und auch würdigen, der es als Sohn einer Thüringer Bauernfamilie mit sieben Kindern bis ganz nach oben geschafft hat. Den Lebensweg nachzeichnen, der den erst 16jährigen Handelsschüler im bereits verlorenen Krieg an die Italienfront führte, der nach dem Krieg die Matura machte, der seine berufliche Karriere als Buchhalter bei der Firma Lorünser in Schlins, und seine politische Laufbahn als Gemeindevertreter in Thüringen begann. Der nebenberuflich zum Doktor der Rechte promovierte, zum Chef eines Milliardenkonzerns mit 1.100 Mitarbeitern aufstieg und zehn Jahre als Landeshauptmann von Vorarlberg die Geschicke des Landes leitete.
Aber Alt-Landeshauptmann Dr. Martin Purtscher spielte einfach nicht mit.
Er empfing uns in seinem Winterdomizil in Stuben am ­Arl­berg mit seiner Gattin Gretl sehr freundlich. Feiner Kaffee wurde serviert, Krapfen und einen wunderbaren Apfelkuchen gab es auch.
Auf die bestens vorbereiteten Fragen zu seinem Lebenswerk wurde aber nur knapp geantwortet. Das Privatleben blieb tabu, aktuelle Vorarlberger Themen ließ er ebenso außen vor. „Da will ich mich nicht mehr einmischen.” Auf seine Auszeichnungen und Ehrenorden angesprochen, antwortete er nur knapp mit einem Zitat des legendären Bludenzers Hans Bürkle: „Eine Auszeichnung ist wie eine Bombe – sie fällt vom Himmel und trifft Unschuldige”.

Das Gespräch war dennoch ausführlich und höchst interessant: Sehr wohl einmischen will er sich nämlich in die aktuellen Themen von internationaler Bedeutung.


Herr Dr. Purtscher: Beim Blumenegger Neujahrsempfang haben Sie heuer 400 Gäste begeistert. Mit einer brillanten  Analyse zur Situation der Europäischen Union – und auch damit, dass Ihnen das 45 Minuten lang ohne schriftliche Unterlagen bestens gelungen ist. 

Da steckt ein System dahinter. Ich befasse mich mit dem Thema, mache mir dabei stenographische Notizen und formuliere daraus meinen Vortrag. Den gehe ich dann mehrfach durch. Irgendwann sitzt dann alles. Da steckt auch viel Routine dahinter, das habe ich ja schon oft so gemacht.

Ihre Ansprache klang aber nicht wie ein Routine-Vortrag, Sie haben das Thema mit sehr viel Leidenschaft vorgetragen.

Der Zuspruch für die Populisten von links und rechts, die den Menschen vorgaukeln, eine Rückkehr zum Nationalstaat würde Probleme lösen, ist bedenklich. In Wahrheit wäre ein Austritt für Österreich wirtschaftlicher Selbstmord, ein Zerfall der Europäischen Union eine echte Gefahr für Frieden, Freiheit und Wohlstand auf unserem Kontinent. So eine Erkenntnis ohne Leidenschaft vorzutragen ist doch gar nicht möglich!

Der Brexit ist aus meiner Sicht noch nicht endgültig. Ich zähle auf Tony Blair.

Sie wurden vor 30 Jahren, am 9. Juli 1987, als Landeshauptmann vereidigt. Österreich war damals noch gar nicht Mitglied der EU.

Das war letztlich der sachliche Grund, wieso ich damals meinen sehr erfüllenden Beruf als Manager von Suchard, Jacobs, Mirabell und Bensdorp aufgegeben habe. Die Entscheidung fiel mir schwer, meinen wirklich „süßen” Beruf mit einem „herberen” – der Politik – zu tauschen. Die österreichische Poli­tik war seinerzeit der Meinung, dass eine diplomatische Annäherung an die EU genügen würde. Dabei hatten die führenden Kräfte der EU schon unmissverständlich klar gemacht, dass man entweder dabei, oder eben draußen ist. Die damalige Politik des sogenannten „global approach” – Annäherung ohne Beitritt – hat mich herausgefordert. Ich wollte dazu beitragen, dass Österreich Mitglied der Union werden kann.

Sie gelten heute als einer der Architekten der Österreichischen EU-Mitgliedschaft. Wie sind Sie vorgegangen?

Bei der ersten Landeshauptleute-Konferenz, an der ich im November 1987 teilgenommen habe, war eine Abkehr von der bisherigen außenpolitischen Haltung mein Anliegen. Beim Landeshauptmann-Kollegen Wilfried Haslauer sen. aus Salzburg fand ich Unterstützung. Wir überzeugten Landeshauptmann Zilk, der schließlich auch seine Kärntner und Burgenländer Kollegen für einen Beschluss gegen die Bundesregierung gewinnen konnte. Die Landeshauptleute-Konferenz war die erste politische Institution, die einen Beitritt zur europäischen Gemeinschaft forderte.

Damals gab es aber noch viel Widerstand. Auch in der wirtschaftsfreundlichen ÖVP waren viele dagegen.

Vor allem die Landwirte lobbyierten stark gegen den Beitritt, aber auch manche Unternehmer hatten Angst vor der drohenden Konkurrenz. Beim Dreikönigstreffen der ÖVP Führung im Jänner 1988 hat mich der damalige Wirtschaftsminister Robert Graf mit seinem Beharren auf global approach genervt. Da habe ich dazwischengerufen und gesagt, dass Petting im politischen Leben unmöglich sei.  Parteiobmann und Außenminister Alois Mock hat mich dann beauftragt, eine ÖVP-Kommission zu bilden und zu leiten. Mit unabhängigen Experten – es waren über hundert – sollten wir ermitteln, ob ein Beitritt oder der Nicht-Beitritt für Österreich günstiger wäre. Das eindeutige Ergebnis pro Beitritt wurde im April 1988 in einer Europa-Konferenz der ÖVP in der Hofburg präsentiert. – Ebenso der Beschluss der ÖVP, den Beitritt anzustreben.

Der Regierungspartner SPÖ war damals aber noch nicht im Boot. Kanzler Franz Vranitzky hat Sie im Juni 1988 persönlich im Bregenzer Landhaus besucht, um sich über Details der Europa-Kommission zu informieren.

Ja, das war ein sehr interessantes Gespräch und ich glaube, das hat es nicht oft gegeben, dass sich ein Bundeskanzler beim Vorarlberger Landeshauptmann über die Ergebnisse der Europa-Kommission eingehend informieren ließ. Er selbst war ein EU-Befürworter, hat mir aber auseinandergesetzt, dass in der Partei und vor allem auch beim ÖGB größter Widerstand besteht. Das rührte noch aus der Zeit von Bruno Kreisky, der strikt gegen einen  Beitritt zur EU war, weil er ihn als einen Quasi-Anschluss an Deutschland sah. Vranitzky ist aber klug vorgegangen und hat seine Partei in homöopathischen Dosen überzeugt. Dass im Juli 1989 der berühmte „Brief nach Brüssel” geschickt werden konnte, ­war großteils sein Verdienst.

Und auch Ihrer – Sie waren ja direkt in die Beitrittsverhandlungen eingebunden.

Diese mehrtägigen Tag- und Nachtverhandlungen Ende Februar 1994 waren das berührendste politische Erlebnis, das ich jedem Politiker gönnen würde. Alle waren patrio­tische Österreicher grenzüberschreitend in der Parteizugehörigkeit, grenzenlos in der Einsatzbereitschaft. Die Verhandlungen gestalteten sich äußerst schwierig, zumal für uns die Neutralität nicht verhandelbar war. Delegationsleiter Alois Mock, der damals schon durch seine Parkinsonkrankheit beeinträchtigt war,  kämpfte aber wie ein Löwe, ebenso  Staatssekretärin Ederer.

Mit dem Beitritt zur EU setzte ein beispielloses Wirtschaftswachstum ein. Wir leben, auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen, dank EU in Wohlstand.

Nach zwei Verhandlungstagen stieg Norwegen aus, die Finnen und Schweden konnten abschließen, Österreichs Verhandlungsfinale war zermürbend, bis schließlich eine Einigung erzielt wurde.

Aktuell ist es aber um die EU nicht so gut ­bestellt. Die Skeptiker scheinen auf dem ­Vormarsch zu sein.

Die Abstimmung in Großbritannien war ein Schock – nicht nur für mich, sondern auch für viele Briten. Aus meiner Sicht ist der Austritt aber noch nicht besiegelt. Ich setze hier auf Tony Blair. Der fordert, dass die Briten nach Vorliegen der Verhandlungsergebnisse zum Austritt noch einmal abstimmen sollen. Auch wenn die neue Premierministerin Theresa May das derzeit ablehnt, glaube ich fest daran, dass so eine Abstimmung kommt und dann auch für den Verbleib Großbritanniens ausgeht. May war ja vor dem Referendum selbst Gegnerin des Brexit. Und die europafreundlichen Schotten wollen ein neues Referendum.

Auch in anderen Staaten gibt es starke Gruppierungen gegen die EU.

Das politische Streben der AfD in Deutschland, des Front nationale in Frankreich, die Freiheitsbewegung des Gert Wilders in Holland und die 5-Sterne Bewegung des Grillo in Italien zielen auf eine Auflösung der europäischen Gemeinschaft, zum mindesten den Austritt aus der EU.  Ein Auseinanderbrechen der EU wäre wirtschaftlich katastrophal und würde vor allem auch den Frieden in Europa gefährden, den wir seit  70 Jahren als allzu selbstverständlich betrachten. Aber ich bin überzeugt, dass diese Gruppierungen keine Mehrheiten erhalten. „Wo die Gefahr ist, wächst auch das Rettende”, ­sagte schon Friedrich Hölderin, und er hat damit recht!

Die derzeitige EU liefert diesen Populisten aber schon auch viele Argumente.

In der Europäischen Union ist nicht alles eitel Wonne, das stimmt.

Die Regulierungswut grassiert noch immer, obwohl der Krümmungsradius von Gurken und Bananen schon oft genug als völlig irrelevantes Thema verurteilt worden ist. Und für wesentliche Fragen wie die der Bewältigung von Flüchtlingsströmen findet man bisher keine Antworten.

Gerade das Flüchtlingsthema zeigt deutlich auf, dass es mit der Solidarität in der Union nicht zum Besten bestellt ist.

Besonders bedauerlich finde ich, dass gerade jene Länder im Osten Europas, die finanziell besonders stark von der Solidarität der anderen profitieren, keinen Beitrag zur Lösung der Probleme leisten wollen. Die Lösung des Flüchtlingsproblems ist nur durch einen Mehrheitsbeschluss der EU möglich. Es geht aber nicht nur um eine gerechte „Verteilung“ der Flüchtlinge, sondern um gemeinsame Strategien, durch die wir den Zustrom an Flüchtlingen langfristig unterbinden können. Wenn das nicht gelingt, sehe ich eine echte Gefahr für unsere Europäische Kultur.

Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei hat den Zustrom deutlich gebremst. Ist die Türkei aus Ihrer Sicht ein zukünftiges Mitglied der EU?

Nein, das kann nie eine Option sein. Auch wenn Erdogan eines Tages wieder zur Vernunft käme, ein Vollbeitritt der Türkei würde das Gleichgewicht der EU zerstören. Man stelle sich vor, 75 Millionen Bewohner könnten sich überall in Europa niederlassen und einen Arbeitsplatz suchen. Das wäre eine große Gefahr für den sozialen Frieden!

Was die Türkei anlangt, schlugen Sie in Ihrer Rede eine KONTINENTALE PARTNERSCHAFT vor.

Außer der Türkei wünschen fünf weitere Anwärter im Südbalkan – von Serbien bis Mazedonien – einen EU-Beitritt.   Ich trete für eine „KONTINENTALE PARTNERSCHAFT“ – ein, die zwar den Zutritt zum Binnenmarkt, aber nicht alle vier Freiheiten ermöglicht: Ja zur Waren-, Kapital- und Dienstleistungsfreiheit, aber nicht zur Personenfreizügigkeit. Eine solche Anbindung an die EU käme für Staaten in Frage, für die eine Vollmitgliedschaft auszuschließen ist – wie die Balkanländer und die Türkei – oder auch für die Briten. Ich habe sogar die Vision, dass nach einem imperial politisierenden Putin auch ein Russland und die Ukraine in einer solchen Partnerschaft Aufnahme finden könnten.

Für die Türkei und andere Staaten auf dem Kontinent sollte ein „Europa light“ geschaffen werden.

Neben Ihren wichtigen Beiträgen zum EU-Beitritt Österreichs bewegten Sie auch als Landeshauptmann vieles. Was war Ihnen besonders wichtig?

Die Gründung der heutigen Fachhochschule war mir ein besonderes Anliegen, das war ein zähes Ringen mit den Ministerien. Ich freue mich, dass hier heute über 1.300 junge Menschen die Möglichkeit einer hervorragenden tertiären Ausbildung nutzen. Als ich damals das Fernziel von 1.000 Studenten genannt hatte, war das ja von kaum jemandem für möglich gehalten worden.

Auch das Thema Illwerke war ein zähes Ringen.

Unmittelbar nach meiner Angelobung 1987 ging ich zu Finanzminister Lacina und kündigte ein Offert des Landes für den Kauf der Bundesanteile an. Die Verbundgesellschaft, welche die Treuhandschaft der 70 Prozent Bundesanteile hatte, wollte die VIW unbedingt kaufen, offerierte dem Bund,  jedes Angebot Vorarlbergs um drei Prozent zu überbieten. Es war also ein zähes Ringen, die Illwerke zu Vorarlberger Illwerken zu machen Nach sieben Jahren Verhandlungen erzielte ich mit Minister Staribacher eine mündliche Einigung. Vor Vertragsabschluss war aber die Zustimmung des Nationalrates notwendig. Als das VIW-Thema auf  der Tagesordnung stand, erfuhr ich vom plötzlichen Auflösungsbeschluss des Nationalrates. Per Nachtzug in Wien angekommen, eröffnete man mir, dass das Thema VIW wegen des Auflösungsantrages nicht behandelt werden sollte. Minister Staribacher hielt aber sein Wort und konnte die SPÖ- Fraktion bewegen, dem Verkauf doch zuzustimmen. Der erfolgreiche Abschluss dieses vieljährigen Verhandlungsmarathons erfüllt mich mit  Stolz. Welches Schicksal den VIW gedroht hätte, ist aus den von der Verbund erworbenen Tauern-, Donau – und anderen Großkraftwerken zu ersehen – sie existieren als selbständige Gesellschaften gar nicht mehr!

Aber es erfüllt mich mit besonders großer Genugtuung und Freude,  zum Gelingen des Beitritts Österreichs zur Europäischen Gemeinschaft beigetragen zu haben. Trotz Fehler und Schwächen der EU: ihr verdanken wir 7O Jahre Frieden in Freiheit und Wohlstand!


Wir bedanken uns bei Dr. Martin Purtscher für das ausführliche Interview.


Fotos: TM-Hechenberger, Vorarlberger Landesbibliothek / Helmut Klapper, Privat Fam. Purtscher

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