Mörder und Ermittler gleichermaßen im Visier

Dr. Hans Widerin hat in den letzten Monaten den Geschehnissen von damals intensiv nachgespürt. Laut mündlicher Überlieferung hatte sein Vater an jenem verhängnisvollen Abend mit seinem Bruder und Arbeitskollegen Karl die Schicht zur Flurwache getauscht.

Dr. Hans Widerin war gerade einmal vier Jahre alt, als sein Onkel ermordet wurde. Das Geschehen von damals lässt ihn bis heute nicht los. Seine intensiven Recherchen haben spannende Details zutage gebracht – unter anderem auch über den damaligen Kriminal-Ermittler. 

FOTOS: TM-HECHENBERGER, PRIVAT

„Das Bild, wie mein toter Onkel auf einem Pritschenwagen an mir vorbeigeschoben wurde, ist meine älteste Kindheitserinnerung”, blickt Hans Widerin auf eine bedroh­­lich wirkende Szenerie zurück. Seine vier Jahre ältere Schwester Rosmarie hatte zudem beobachtet, dass nach der Ob­duk­tion im Brazer Bahnhof blutgetränktes Wasser einfach auf die Straße geschüttet wurde. Sie erinnert sich daran, dass sie ihren Vater damals – das erste und einzige Mal in ihrem Leben – weinen sah. 

Die Familie wohnte zu dieser Zeit im oberen Stock des Bahnhofsgebäudes, der Onkel gleich nebenan. Die dreiste Tat, die 1945 nicht nur den 50 Jahre alten Karl Wide­rin, sondern auch seinen sechs Jahre jüngeren Arbeitskollegen und Nachbarn Ludwig Zech das Leben kostete, gab innerhalb der Verwandtschaft immer wieder Grund für Spekulationen. Erst vor rund zwei Jahren gelangte Hans Widerin in den Besitz von Aufzeichnungen, die etwas Licht in die Sache brachten. Der Bludenzer Jurist hatte nun endlich Anhaltspunkte für eigene Recherchen in unterschiedlichsten Archiven: 

Karl Widerin und Ludwig Zech waren am 26. Juli 1945 von der Gemeinde zum ehrenamtlichen Flurdienst eingeteilt worden. Denn die Zeiten waren unsicher. Vor nicht einmal drei Monaten hatte Hitlers Wehrmacht kapituliert, die Herrschaftsverhältnisse im Land waren von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. In Vorarlberg versuchten die französischen Besatzer, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Angesichts von Versorgungsengpässen sowie Massen an Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern, Flüchtlingen und Umquartierten, die nun einen Weg suchten, so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückzukehren, war dies kein leichtes Unterfangen. Elende Lebensumstände und der – oft durchaus nachvollziehbare – Wunsch, es den ehemaligen „Herren” heimzuzahlen, ließ so manche auch vor kriminellen Aktivitäten nicht zurückschrecken. „Bei diesen Beutezügen spielten sich teils groteske Szenen ab”, hat Hans Widerin den Polizeianzeigen entnommen. Wer in Besitz von Lebensmitteln, Schnaps oder Waren für mögliche Tauschgeschäfte war, lief Gefahr, von bemitleidenswert gekleideten Gestalten bestohlen, bedroht und ausgeraubt zu werden. Um Diebe abzuschrecken, schoben also Karl Widerin und Ludwig Zech in jener Nacht an den Kartoffelfeldern im Brazer Barbiel – ungefähr dort, wo heute die Golfer ihre Schlagkraft unter Beweis stellen – Wache. Ihre Schicht sollte von 22 Uhr bis 1 Uhr dauern. Um vier Uhr in der Früh waren die beiden allerdings immer noch nicht zuhause. Angehörige und Nachbarn fanden sie um 4.15 Uhr erschossen im Ried auf. Ludwig Zech hinterließ Gattin Julianne und vier Kinder, Marie Widerin blieb mit sieben Kindern zurück. Neun Tage zuvor hatte sie einer Tochter das Leben geschenkt. – Dies alles konnte Hans Widerin den Aufzeichnungen aus unbekannter Quelle entnehmen, die ihm ein Großcousin über­ließ, nachdem sie bei einer Begräbnisfeier wieder einmal auf die alte Sache zu sprechen gekommen waren. Den Bludenzer Rechtsanwalt interessierte vor allem, warum der Onkel sowie sein Freund und Nachbar sterben mussten. Die beiden Flurwächter waren schließlich unbewaffnet gewesen.

Karl Widerin und Ludwig Zech wurden am 27. Juli 1945 ermordet. Durch diese Bluttat verloren insgesamt elf Kinder ihren Vater. Das jüngste war gerade einmal neun Tage alt.

Der Hinweis eines befreundeten Juristen half Widerin dabei, die Polizeiakten im Landesarchiv aufzustöbern. Die Polizei ging damals von einem zweifachen Raubmord aus, nur einen Tag nach der Tat waren drei Verdächtige gefasst. Was Hans Widerin aber verblüffte, war die Tatsache, wie zielstrebig und genau der verantwortliche Kriminalbeamte Franz Meister vom Kriminalpolizeiposten Bludenz ermittelt hatte. Es gab nämlich keine direkten Zeugen zur Tat. Einige Nachbarn hatten in der Nacht zwar Schüsse gehört, hielten dies in der damaligen Zeit aber nicht für ungewöhnlich. Niemand war nach draußen geeilt, um nach dem Rechten zu sehen. 

Trotzdem brauchte der Polizist nur wenige Stunden, um drei polnische Zwangsarbeiter ins Visier zu nehmen. Den Verdächtigen wurde zum Verhängnis, dass sie bei früheren Einbrüchen und Erpressungsversuchen erkannt worden waren. Einmal hatten sie sogar einen Warnschuss abgegeben, und der minderjährige Sohn der betroffenen Familie hatte die schwarze Patronenhülse aufbewahrt. Diese erwies sich als identisch mit jenen, welche die Polizei am späteren Tatort des Mordes sicherstellte. Indiz für Indiz wies auf Michael Janusz, Wladislav Maziarka und Marjan Kociuba hin. Der Ermittler bekam von der französischen  Militärpolizei mehrere Mitarbeiter zur Seite gestellt, um die Verdächtigen in ihrer Unterkunft zu stellen und hatte rasch den Tathergang geklärt: Das Trio hatte in der Nähe einer Heubarge an der Arlbergbahn die Dunkelheit abgewartet, um Kartoffeln zu stehlen. Gegen Mitternacht bemerkten sie die beiden Flurwächter. Michael Janusz ging ihnen entgegen und streckte Ludwig Zech wortlos aus einer Entfernung von etwa zwanzig Metern mit fünf Schüssen nieder. Karl Widerin versuchte zu fliehen und flehte unter Hinweis auf seine sieben Kinder um Gnade. Doch der Schütze feuerte aus nächster Nähe drei Mal auf ihn. „Ich war erstaunt darüber, dass ein ‚Provinzpolizist‘ so gut mit kriminalistischen Erhebungen vertraut war”, erklärt Dr. Widerin, warum er besagten Franz Meister später genauer unter die Lupe nahm.

Marjan Kociuba, Wladislav Maziarka und Michael Janusz waren zum Zeitpunkt des Doppelmordes gerade einmal 22, 19 beziehungsweise zwanzig Jahre alt. Sie gestanden die Tat wenige Tage nach ihrer Verhaftung. Nach einem Aufsehen erregenden Prozess in Feldkirch wurde der Schütze Michael Janusz am 4. Mai 1946 hingerichtet. Seine beiden Gefährten wurden vom französischen Militärgericht zu langen Haftstrafen verurteilt. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Polen galten den Nazis als „slawische Untermenschen”. Wer den Zwangsarbeitern auch nur ein paar Nahrungsmittel zusteckte, riskierte eine Gefängnisstrafe. 

Der ausführliche Polizeibericht gibt aber keinerlei Hinweis auf das Warum. „Diese Frage scheint sich niemand gestellt zu haben.” – Dr. Widerin erhoffte sich deshalb weitere Hinweise aus den Gerichtsakten. Bisher blieben seine Versuche, Einsicht in die Prozess-Aufzeichnungen zu bekommen, allerdings erfolglos. Sie lagern in französischen Archiven, da der Doppelmord vor einem französischen Militärgericht verhandelt wurde.

Ergiebiger waren hingegen die Recherchen  über den auffallend fähigen Ermittler. Es stellte sich heraus, dass es sich bei Franz Meister keineswegs um einen gewöhnlichen Kripobeamten, sondern um einen „gefürchteten und prominenten Gestapo-Mann aus der Wiener Gegend handelte, der noch im Februar 1945 vom Endsieg überzeugt gewesen war”. Historiker gehen davon aus, dass er vor dem Einmarsch der Russen geflüchtet, über Umwege in Bludenz gelandet und bei der hiesigen Polizei ohne irgendwelche Vorbehalte aufgenommen worden war. 

„Er muss außergewöhnlich gute Kontakte gehabt haben”, vermutet Dr. Widerin. Denn Franz Meister wurde am 16. Februar 1946 verhaftet, weil mehrere Zeugen  von seinen fürchterlichen Quälereien an Inhaftierten berichtet hatten, dann aber am 31. Jänner 1947 vom Hochkommissariat der „Republique Francaise en Autriche” gnadenweise vorzeitig entlassen. Gute zwei Jahre nach seiner neuerlichen Festnahme im Oktober 1947 wurde das Verfahren gegen ihn aufgrund widersprüchlicher Ergebnisse eingestellt. Wie auch etliche Historiker schließt Widerin aus diesem Fall, dass der „Aufklärungseifer österreichischer Gerichte zu dieser Zeit bereits endenwollend war.” Umso wichtiger ist es ihm, zumindest heute auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass NS-Mitläufer und Täter auch Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches noch unbehelligt im Staatsdienst stehen konnten, obwohl man Angehörige der Gestapo laut Gesetz aus dem Staatsdienst hätte entlassen müssen. 

Die vorläufigen Ergebnisse seiner Recherchen werden – voraussichtlich im Herbst – vom Geschichtsverein Bludenz in den Blu­den­zer Geschichtsblättern veröffentlicht.

 

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