Nostalgischer Blick auf ein Opfer der Digitalisierung

Der 14. August 2021 wurde bei den ÖBB als Beginn einer neuen Ära gefeiert. Seit diesem Tag werden sämtliche Bahnhöfe an der Arlbergbahn zwischen Bludenz und Landeck von der Betriebsführungszentrale Innsbruck ferngesteuert. In der Nacht zuvor hatten die letzten Fahrdienstleiter am Bahnhof Braz ihre Koffer gepackt. Andreas Gaßner hat diesen bewegenden Moment mit seiner Kamera einfühlsam festgehalten. Gemeinsam mit Historiker Christof Thöny präsentierte er im September einen eindrucksvollen Bildband mit dem Titel „Endstation Braz”.

FOTOS: ARCHIV SCHÖN, ANDREAS GASSNER, TM-HECHENBERGER

Der Bau der Arlbergbahn galt einst als größtes Bauvorhaben der österreichisch-ungarischen Monarchie. Das Projekt stellte Planer und Ausführende vor gewaltige Herausforderungen, sollten die Dampfloks doch mit einer Last von bis zu 150 Tonnen auf der mehr als 136 Kilometer langen Bahntrasse eine Höhendifferenz von 750 Metern überwinden. Bis zu 14.000 Menschen arbeiteten gleichzeitig an den Geleisen sowie an den benötigten Stützmauern, Schutzdämmen, Schneerechen, Brücken, Galerien, Viadukten und Lawinenschutzbauten. Allein der Bau des gut zehn Kilometer langen Arlbergtunnels kostete 92 Menschen das Leben. Kein Wunder also, dass Kaiser Franz Josef I. am 20. September 1884 höchstpersönlich zur Eröffnungsfahrt anreiste. Zu diesem Zeitpunkt waren auch die insgesamt 22 Bahnhofsgebäude zwischen Innsbruck und Bludenz fertiggestellt. Sie alle wurden aus Steinen gebaut, die beim Bau der Eisenbahntrasse und der Tunnel aus dem Gelände geschlagen wurden. „Die Bahnhöfe wurden in sämtlichen Orten des damaligen Österreich nach denselben Plänen errichtet”, weiß Andreas Gaßner. „Sie unterschieden sich lediglich in der Größe. An der Anzahl der Fenster konnte man die Bedeutung des Bahnhofs ablesen.” Dies lässt sich heute noch in sämtlichen Gebieten, welche zum damaligen Habsburger-Reich gehörten, beobachten. Der Brazer hat sogar im Urlaub in Kroatien ein Gebäude entdeckt, welches dem Bahnhof in seinem Heimatort bis aufs Haar glich. Den Bahnhof immer in Sichtweite Dieser hatte immer schon eine besondere Bedeutung für ihn. Bis heute wohnt Andreas Gaßner in Sichtweite, als Jugendlicher nutzte er die Bahn für den Schulweg nach Bludenz, später folgte er dem Beispiel seines Vaters, der bei der Bahn angestellt war. Er erinnert sich an das rege Treiben, wenn am Bahnhof Vieh verladen wurde, hat die schleichenden Veränderungen live miterlebt. Gaßner weiß noch, wie vor 25 Jahren zum letzten Mal ein Regional­zug in Braz hielt, zu den Menschen, die im Bahnhofsgebäude Dienst taten, pflegte er regen Kontakt. Weil viele von ihnen am Ausbildungsbahnhof Braz ihre ersten Erfahrungen sammelten, ist dieser Ortsteil von Bludenz Fahrdienstleitern in ganz Österreich ein Begriff.

Weichen wurden einst händisch gestellt

Zu ihren Aufgaben zählte vor allem das Stellen der Signale und das Bedienen der Schranken. An zuletzt drei Bereichen rund um den Bahnhof Braz kreuzt sich der Autoverkehr mit den Bahngleisen. Immer wieder kam es dort zu gefährlichen Situationen, und auch Unfälle sind in der Bahnhofschronik aufgelistet. Bis 1934 mussten die Weichen händisch gestellt werden. Dafür waren die Weichenwärter zuständig, die in den Wärterhäuschen beidseits des Bahnhofs Dienst taten. Den Schlüssel für das Weichenschloss mussten sie sich zuvor beim Fahrdienstleiter abholen, der den Zug erst passieren ließ, wenn er den Schlüssel wieder sicher in seiner Verwahrung hatte. Über Verspätungen wurde der Diensthabende per Fernmelder informiert. 

All diese Arbeitsschritte sind natürlich längst Geschichte. Der Wasserkran zwischen den Gleisen, mit dem einst die Speicher der Dampfloks befüllt wurden, hatte sogar schon in den 1920er-Jahren ausgedient, als die Arlbergbahn als eine der ersten Bahnstrecken Österreichs elektrifiziert wurde. Den benötigten Strom lieferte – unter anderem – das Spullerseekraftwerk, das eigens zu diesem Zweck errichtet wurde. Starke Rauchentwicklungen in den Tunneln, aber auch der Verlust von wichtigen Kohleabbaugebieten nach dem 1. Weltkrieg hatten diese Entwicklung vorangetrieben. 

Trotz all der technischen Neuerungen und der sich verändernden Anforderungen an eine moderne Eisenbahn weht ein bisschen etwas vom einstigen Pioniergeist durch das denkmalgeschützte Bahnhofsgebäude in Braz. Ein vorsintflut­liches Telefon trägt dazu bei, Fahrkarten aus steifem, braunem Karton und das längst ausgediente Gleis/Schaltbild, das den Fahrdienstleitern einst einen Überblick über das Geschehen auf den Gleisen vermittelte. Aber auch die Menschen, die hier mehr als 130 Jahre lang ein und aus gingen, haben ihre Spuren hinterlassen.

Band-Probe im Bahnhofsgebäude

Bis zuletzt schoben die Fahrdienstleiter in dem ehrwürdigen Gebäude mit dem handgeschmiedeten Jugendstil-Treppengeländer ihre Schichten. Weil etwa Daniel Burtscher oft Dienst hatte, konnte es schon einmal vorkommen, dass ihn seine zwei Musiker-Freunde besuchten. Dann verlegte das ­­„nuDla tRio”­ seine Probe kurzerhand ins Bahnhofsgebäude.­ So wurde dem Posaunisten und Bassisten die Wartezeit zwischen seinen Einsätzen mit Live-Musik unterhaltsam verkürzt. 

Als damaliger Leiter der ÖBB-Projektbuchhaltung in der Bludenzer Mokrystraße wusste Andreas Gaßner von Planungsbeginn an Bescheid, dass die komplette Sicherungsanlage in seiner Heimatgemeinde umgebaut und künftig von Innsbruck aus bedient werden sollte. Er hat von seinem Vater nicht nur die Begeisterung für die Bahn geerbt, sondern auch die Leidenschaft fürs Fotografieren. Von klein auf ist er mit der Kamera vertraut und hat sich auf diesem Gebiet immer weitergebildet. Er beschloss deshalb, die Bahnhofsmitarbeiter bei ihrem Abschied zu begleiten und diesen Schritt zu dokumentieren. Immerhin war der Bahnhof Braz der letzte der einst zehn an der Bergstrecke der Arlbergbahn, der noch nicht der Digitalisierung zum Opfer gefallen war. 

Als Arbeitsstätte hat er ausgedient: Was mit dem ehrwürdigen Brazer Bahnhof geschieht, steht momentan in den Sternen.

Ein Jahr lang hielt er das Geschehen im und rund um das ehrwürdige Gebäude fest, und auch am 13. August des Vorjahres war er live dabei, als die Mitarbeiter mit einer gewissen Wehmut ihre persönlichen Dinge einpackten. „Es herrschte eine ziemliche Unruhe”, erinnert sich Andreas Gaßner. Denn Techniker und Bauarbeiter, welche die letzten Schritte an der neuen Signalanlage überwachten, gingen ein und aus. Als Anja Hübner nach ihrer letzten Schicht an den diensthabenden Fahrdienstleiter Bernhard Lorünser übergab, blieb wenig Raum für einen feierlichen Moment. Die Mitarbeitenden sind längst an einem neuen Einsatzort mit neuen Aufgaben vertraut. 

Freunde der Arlbergbahn

Als Andreas Gaßner diese Szenen festhielt, war noch keine Rede von einem Buch. Erst als er mit Historiker Christof Thöny zu reden kam, nahm dieses Projekt konkrete Formen an. Denn als Obmann des Museumsvereins Klostertal hatte Thöny im Februar 2022 eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen, um Mittel für ein Arlbergbahn-Archiv zu lukrieren. Außerdem setzt er sich dafür ein, dass sich einige Interessierte derzeit in einer Gesellschaft der Freunde der Arlberg­bahn vernetzen. All jene, denen dieses kulturelle Erbe, das bis heute Eisenbahn-Enthusiasten aus der ganzen Welt anzieht, am Herzen liegt, sind in dieser Vereinigung herzlich willkommen. 

Der Bildband „Endstation Braz”, der im September von den Gästen am „Tag des Denkmals” sehr gut aufgenommen wurde, ist im Buchhandel um 25 Euro erhältlich. Infos über die Gesellschaft der Freunde der Arlbergbahn gibt es unter: www.arlbergbahn.com.

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