Digitale Tanz-Nomadin

Corinna Burtscher folgte keiner spontanen Eingebung, als sie 2015 den sicheren Job und die Wohnung kündigte, ihren Hausrat verkaufte, von der Familie, Freunden und Schülern Abschied nahm. Trotzdem verstanden nicht alle in ihrem Umfeld diese Entscheidung. Doch fünf Jahre später ist die Thüringerin immer noch glücklich darüber, dass sie ihrem Bauchgefühl gefolgt ist. Sie hat ihre Sicherheit gegen die Freiheit eines „digitalen Nomaden” getauscht. 

FOTOS: PRIVAT, CHRISTIANE STURMER

„Dabei kannte ich dieses Wort damals noch gar nicht”, lacht Corinna Burtscher. Sie wusste nur, dass sie sich ausgebrannt fühlte, sie nicht bis zur Pensionierung so weitermachen konnte. Dabei liebte sie ihren Job. Der Tanzpädagogin machten aber zunehmend die Knie zu schaffen. Mit 49 Jahren fühlte sie, dass es Zeit war, ihr Leben von Grund auf zu ändern. Den Entschluss, einmal auszusteigen, hatte sie aber bereits 19 Jahre früher gefasst. Doch als 30-Jährige hatte sie gewusst, dass sie bis dahin noch einiges schaffen wollte. Das Tanzen war Corinna Burtscher nicht in die Wiege gelegt. Als Zwölfjährige begann sie, in der elterlichen Küche all­abendlich Tanzschritte zu üben. Sie wiegte sich im Takt und träumte sich in eine Welt, die sie nur aus Büchern kannte. Ihr Weg schien vorgezeichnet.

Corinna Burtscher absolvierte die Handelsschule, arbeitete später beim Finanzamt. Im Turnverein wurde das Bewegungstalent dann zur Vorturnerin befördert. Die junge Mutter von zwei Töchtern absolvierte daraufhin eine staatliche Ausbildung: Haltungsturnen für Kinder. „Schon damals habe ich versucht, die Übungen in Geschichten zu verpacken”, erzählt Corinna Burtscher aus dieser Zeit. Denn viele ihrer Schützlinge kamen nicht ganz freiwillig, sondern auf Anraten des Arztes oder auf Wunsch der Eltern zum Unterricht. „Ich habe mir einfach überlegt, was mir als Kind gefallen hätte”, entwickelte die Thüringerin bald einen eigenen Stil: Mit „Disco Gymnastik” konnte sie viele ihrer Schüler begeistern. 

Als dreißigjährige Alleinerzieherin arbeitete sie in verschiedenen Büros und im Gastgewerbe, um die Familie durchzubringen. Trotzdem gelang es ihr, parallel zur Berufstätigkeit Tanzpädagogik und Tanztechnik zu studieren. Eine Festanstellung bei der Musikschule Bludenz sicherte bald den Lebensunterhalt, daneben trainierte sie Models bei verschiedenen Choreografien, leitete Tanzprojekte mit Kindern und Jugendlichen an Schulen. Diese Arbeit bedeutete Corinna Burtscher viel. Als Fan von Pippi Langstrumpf ging es ihr nicht unbedingt um technisch perfekte Schritte. Sie wollte ihren Schülern möglichst viel Freiheit lassen, ihnen Spaß an der Bewegung vermitteln. Die Kinder und Jugendlichen sollten sich in einer Geschichte wiederfinden und ihren Gefühlen Ausdruck verleihen. In ihren Produktionen versuchte Corinna Burtscher immer, aktuelle Themen aufzugreifen und mit ihren Schülern gemeinsam zu erarbeiten. „Ich habe an der Musikschule Bludenz mit 40 Tanzschülern begonnen”, erzählt sie strahlend. Denn als sie 14 Jahre später den Job kündigte, waren es es fast viermal so viele und weitere auf der Warteliste. 

Entsprechend schwer fiel ihr der Abschied: „Aber ich habe mich selbst nicht mehr gespürt.” Die Töchter standen inzwischen auf eigenen Beinen, die Zeit war gekommen, den alten Traum in die Tat umzusetzen: Sie wollte nur das Nötigste behalten, mit wenig auskommen, andere Länder und Menschen kennenlernen – und ein Buch schreiben. Fürs Erste zog sie sich in ihre Alphütte zurück, die sie Jahre zuvor geerbt und nach und nach renoviert hatte. Auf Sentum oberhalb von Blons schmiedete sie erste Pläne, recherchierte, wie sie ihren neuen Lebensstil umsetzen könnte. 

Anfangs brauchte sie einige Zeit, um sich zu orientieren und auszuruhen. Corinna Burtscher verbrachte paar Wochen in der Wohnung einer Freundin in Wien, die Geburt des ersten Enkels führte sie nach Graz. Nun galt es, vor allem zwei Dinge anzugehen: Ihre Flugangst konnte Corinna Burtscher mit viel Überwindung besiegen, und das Internet offenbarte ihr schließlich Unterkünfte ganz nach ihrem Geschmack: Das Motto lautet seither Co-Living. Wo immer es sie hinzieht, mietet sich Corinna Burtscher in der Nebensaison in solchen Wohngemeinschaften für Berufstätige ein. Sie genießt es, interessante Menschen aus aller Welt kennenzulernen und sich mit ihnen auszutauschen. Wenn sie sich wieder verändern möchte, packt die Thüringerin ihre Habseligkeiten in ihren Trolley und reist weiter. Ihr erstes Auslands-Ziel war Barcelona, dann ging es weiter nach Portugal und Marokko. „Als ich in Marrakesch landete, war der Griff meines Trolleys herausgeschnitten, ich wurde im Taxi ums Ohr gehauen, bin dann aber trotzdem ganz stolz um Mitternacht in einem kleinen Dorf gelandet”, erinnert sich Corinna Burtscher gerne an diese ersten Erfahrungen. Denn nun endlich war sie sich sicher: „Ich habe den Mut zu reisen.” In London lebte sie mit 500 Gleichgesinnten in der größten Co-Living-Gemeinschaft der Welt. Mallorca, Lissabon, Budapest und Berlin waren weitere Stationen in den letzten fünf Jahren. Zwischendurch kehrte sie immer wieder in die Heimat zurück, um auf Sentum den Sommer zu verbringen. 

Im eigenen Rhythmus leben und arbeiten

Corinna Burtscher genießt es, dass ihr neuer Lebensstil es ihr ermöglicht, ganz im eigenen Rhythmus zu leben, zu tanzen, viel laufen zu gehen, sich gesund zu ernähren und im eigenen Takt zu arbeiten. Sie schreibt fleißig Beiträge für Schulmagazine, ist eine gefragte Referentin in der Lehrerfortbildung und freut sich, wenn sie für kreative Tanzprojekte gebucht wird. In letzter Zeit stand sie außerdem immer wieder als Interview-Partnerin in Podcasts Rede und Antwort.

Ein Buch schreiben – dies hat sich Corinna Burtscher schon vor vielen Jahren zum Ziel gesetzt. Auf der Alpe Sentum findet sie die Muße, sich dieser Arbeit ganz hinzugeben.

Hätte Corona sie nicht früher in die Heimat zurückbeordert, wäre Corinna Burtscher erst dieser Tage aus Georgien angereist. Ein Roman – „Das achte Leben” von Nino Haratischwili – hatte in ihr den Wunsch entfacht, dieses von der Geschichte gebeutelte Land zu erkunden. Nun wird sie sich eben früher auf ihrer Alpe einigeln und ihr zweites Buch fertigstellen. Denn – ja, das mit dem Buch ist auch schon erledigt. Corinna Burtschers „Tanzbuch 1” enthält „kunterbunte Bewegungsideen aus der Tanz- und Bewegungspädagogik für Kinder”. Die Tanzpädagogin hat es im Eigenverlag herausgegeben und ganz nach ihren Vorstellungen gestaltet – mit Fadenbindung und handgezeichneten Illustrationen. „Es kommt sehr gut an”, freut sich die digitale Nomadin über viel Nachfrage vor allem bei Pädagogen. Sie sieht ihr Werk als Arbeitsbuch für alle, die Kinder für Bewegung begeistern möchten – mit Musiktipps und kreativem Input. Interessierte können gleich loslegen: Auf Instagram und unter www.corinnaburtscher.com hält sie auch passende Rhythmen bereit. Dieses Projekt ist in sechs Teilen angelegt, das zweite Buch bereits im Entstehen: „Mein Tanzbuch 2” mit vorweihnachtlichen Tanz- und Bewegungsideen – etwa rund um den russischen Märchenklassiker „Varenka” – soll ab Herbst erhältlich sein. 

„Es ist toll, so im eigenen Rhythmus zu arbeiten”, ist Corinna Burtscher rundum zufrieden. Dieser Tage wäre sie eigentlich für ihre erste eigenständige Musical-Regie zum 100-jährigen Jubiläum der Musikschule Bludenz und im Sommer als Referentin in Tirol gebucht. Ob diese Projekte sie für ein paar Monate in Vorarlberg halten werden, war bei Redaktionsschluss – coronabedingt – unklar. Ein Tangokurs in Buenos Aires steht noch auf ihrer Wunschliste, außerdem würde sie gerne Island und Norwegen besuchen. Doch Corinna Burtscher ist sich sicher, dass ihr Bauchgefühl ihr weiterhin einen guten Weg weisen wird. Als Nomadin ist man schließlich unabhängig. Corinna Burtscher braucht nur einen Trolley für ihre Habseligkeiten, ihren Laptop und W-LAN.

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