Judith Rollinger – Von einer, die auszog, um den Dingen auf den Grund zu gehen

„Ich wollte nicht nur Kräuterhexe sein.” - Univ.-Prof. Dr. Judith Rollinger lehrt und forscht am Department für Pharmakognosie der Uni Wien. Mit wissenschaftlichen Methoden ist sie den noch unbekannten bioaktiven Naturstoffen auf der Spur, um neue Impulse für die Entwicklung von neuen Arzneistoffen zu geben. Obwohl die mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin das Ländle vor vielen Jahren verlassen hat, kommt die gebürtige Bludescherin gerne zurück, um die Familie, Freunde und die alte Heimat wiederzusehen. „Da kommen dann schon nostalgische Gefühle auf. Wenn ich mit Papa auf einen Berggipfel steige, ist das etwas ganz Schönes.”

Univ.-Prof. Dr. Judith Rollinger ist fasziniert von altem Heilwissen. An der Uni Wien untersucht sie mit wissenschaftlichen Methoden, ob und wie genau die alten Rezepturen wirken. Studenten aus aller Welt forschen unter ihrer Anleitung im Fachbereich Pharmakognosie. allerhand! hat die gebürtige Bludescherin an ihrem Arbeitsplatz besucht. 

FOTOS: TM-HECHENBERGER

Pharmakognostin. Das ist kein Beruf, den man schon als Kind ins Auge fasst. Das war auch bei Judith Rollinger (damals hieß sie noch Hartmann) nicht anders. Während ihrer Zeit am Bludenzer Gymnasium stellte sich allerdings heraus, dass ihr Pflanzen, Tiere und die naturwissenschaftlichen Fächer besonders am Herzen liegen. Sie wollte deshalb etwas studieren, das verschiedene dieser Disziplinen vereint. Ein bisschen Physik, Chemie, Mathematik, Botanik,…. Bei einem „Tag der Offenen Tür” in der „Großstadt Innsbruck” „schnupperte” sie in den verschiedensten Hörsälen. Eine Vorlesung in Biochemie gefiel ihr besonders. Als sie sich nach der Matura allerdings tatsächlich für Biochemie einschreiben wollte, riet man ihr in Innsbruck: „Kommen Sie wieder, wenn Sie Chemie, Pharmazie oder Medizin studiert haben.” Judith Rollinger ließ sich davon nicht abschrecken und wählte die Pharmazie. „Ich wollte aber nicht in die Apotheke, sondern in die Forschung.”

„Lunte gerochen” an der Naturstoffforschung

Noch während des Studiums kam ihr erster Sohn Mathias zur Welt. Trotz der Herausforderungen, welche die Mutterrolle bereit hielt, zog sie die Ausbildung durch und bekam dann – „das war ein totales Glück” – eine halbtägige Karenzstelle auf der Pharmakognosie in Innsbruck angeboten.„Mein Professor gab mir total viel Freiraum, motivierte mich, zu dissertieren, bot mir eine halbtägige Assistenzstelle an.” In dieser Zeit roch die inzwischen zweifache Mutter „Lunte an der Naturstoffforschung”. Nach langen Jahren der Lehr- und Forschungstätigkeit an der Uni Innsbruck winkte 2014 eine weitere Herausforderung – ein Lehrstuhl in Wien.

Mit mehr als 2500 Studenten hat die Pharmazie an der Uni Wien eine lange Tradition. Schon Kaiser Joseph II baute als Nachfolger seiner Mutter, Kaiserin Maria-Theresia, ein eigenes Institut dafür, das Josephinum im 9. Bezirk. Die Bundeshauptstadt lockte Judith Rollinger mit deutlich höher dotierten Forschungsmitteln, der Möglichkeit, eine eigene Gruppe aufzubauen. „Außerdem kannte ich die Qualität der Kolleginnen und Kollegen in Wien.” In Absprache mit ihrer Familie entschied sie sich, die Herausforderung anzunehmen. Seit knapp dreieinhalb Jahren pendelt sie zwischen Innsbruck, wo inzwischen auch ein Enkel auf den Besuch der Oma wartet, und Wien. Dazu kommen Forschungs- und Vortragsreisen in aller Herren Länder. Am Tag nach dem allerhand!-Interview stand etwa ein Flug zu einem Kongress nach Kolumbien auf dem Programm. „Unsere Aufgabe ist es, unsere Forschungsergebnisse öffentlich zugänglich zu machen, Vorträge zu halten, zu publizieren,” nimmt Judith Rollinger diese Strapazen gerne auf sich. „Forscher kosten den Staat viel Geld. So geben wir der Gesellschaft etwas zurück.”

Antike Rezepturen durchleuchtet

Eine große Forschungsarbeit hat sie vor einigen Monaten abgeschlossen. Gemeinsam mit zwei Mitarbeiterinnen hatte sie drei Jahre lang alte Arzneibücher aus verschiedensten Kulturen nach Heilmitteln gegen Grippeviren durchsucht. Sie durchforsteten antike Kräuterbücher – etwa jene des Plinius und des Dioskurides – ebenso wie Aufzeichnungen der chinesischen Medizin. Die angegebenen Rezepturen wurden genau „nachgebraut” und Extrakte hergestellt. Denn die Forscherinnen wollten nicht nur wissen, ob die Heilmittel wirken. Es galt, genau zu analysieren, welcher der vielen Inhaltsstoffe einer Pflanze oder eines Pilzes im Körper welche Reaktion auslöst.

„Weidenrinde etwa wurde schon in der Antike gegen Fieber und Schmerzen eingesetzt. Vor 120 Jahren hat Felix Hoffmann die Salizylsäure aus der Weidenrinde isoliert und leicht abgewandelt, damit sie für den Menschen besser verträglich ist. Das Ergebnis ist unser heutiges Aspirin,” veranschaulicht die Professorin ihr Vorgehen anhand eines bekannten Beispiels.

Nur ein Drittel der Arzneien sind rein synthetisch
Gleich neben dem Labor ist Dr. Rollingers Schreibtisch, an dem sie Ergebnisse analysiert, Arbeiten ihrer Studenten durchsieht, Vorlesungen und Vorträge vorbereitet,…

Judith Rollinger: „Ein Drittel aller Arzneistoffe, die als Tablette, Kapsel, Saft,… eingenommen werden, sind Naturstoffe oder Naturstoffderivate (Anm.: Derivate sind abgeleitete Stoffe ähnlicher chemischer Struktur), ein weiteres Drittel der Arzneimittel ist auf Naturstoffe im weiteren Sinn zurückzuführen. Sie sind vom Grundaufbau dem Naturstoff nachgeahmt. Nur das letzte Drittel sind rein synthetische Stoffe.” Ihr Augenmerk gilt allerdings den Naturstoffen – und dies aus Überzeugung. Judith Rollingers Teeschrank zuhause ist deutlich größer als der Arzneischrank. „Aber Tees sind für mich ja auch Arzneimittel”, lacht die Professorin. Naturstoffe in Form von Tees sind allerdings schwieriger zu dosieren, sie enthalten oft hunderte verschiedenster Inhaltsstoffe, die auf unterschiedlichste Weise wirken und sich gegenseitig beeinflussen. Das kann sehr praktisch sein, weil sie synergistisch wirken wie etwa im Falle der Kamille, welche entzündungshemmend, antibakteriell und krampflösend wirkt. Die Tollkirsche ist da ein völlig anderes Kaliber. Die für den Menschen tödlich giftige Pflanze enthält nämlich auch einen sehr effizienten krampflösenden Wirkstoff. Die Arzneimittelhersteller nutzten diesen etwa bei der Entwicklung von Buscopan.

Alte Grippe-Mittel wissenschaftlich untersucht

„Die Legislative tut sich mit der Zulassung eines chemisch wohldefinierten Stoffes deutlich leichter”, erklärt Judith Rollinger. Schließlich ist dessen Wirkung klarer einzuschätzen. Doch viele Leiden, vor allem „Wohlstands-Krankheiten”, beeinträchtigen verschiedenste Körperfunktionen. Da ist es von Vorteil, wenn ein Arzneimittel an unterschiedlichen Fronten kämpft. „Heilmittel aus Mehrstoffgemischen, sogenannte Phytopharmaka, wirken vielleicht zunächst nicht ganz so schlagkräftig, sorgen aber für Harmonisierung”, ist Judith Rollinger überzeugt. Ihr vom FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung) gefördertes Grippe-Projekt brachte diesbezüglich wesentliche Erkenntnisse. Dank diesem hält die Uni Wien nun mehrere Patente, die höchstwahrscheinlich von der Pharmaindustrie aufgekauft und genutzt werden. Vier Jahre lang wurde dafür unter anderem eine Liste mit mehr als 60 Pflanzen erstellt, die gegen Viren eingesetzt werden können. In Zusammenarbeit mit einer Virologin in Jena wurde die Wirkung getestet, wurden Zellen mit Viren infiziert und dann mit den Naturstoff-Extrakten „behandelt”, die Ergebnisse mit aufwendigen Computersimulationen genau analysiert. Die nächste Frage war, wie die Inhaltsstoffe am effizientesten angewendet werden können. Ist ein wässri­ger Extrakt wirkungsvoller oder etwa ein alkoholischer Extrakt? Viele Stunden brüteten Studenten, Assistenten und Professorin im Labor über solchen Fragen. „Es wird sich zeigen, ob die Arbeit bahnbrechend war oder einfach nur tiefere Einblicke geliefert hat,” ist Judith Rollinger gespannt, welchen Nutzen ihre Forschungen langfristig bringen.

Und was tut sie persönlich gegen die Grippe?

„Ich versuche, mich nicht allzu lange in trockenen  und überhitzten Räumen aufzuhalten.” Ihr Büro am Institut hat Dr. Rollinger mit vielen Pflanzen ausgestattet, um die Luftfeuchtigkeit zu erhöhen. Bei ersten Anzeichen greift sie zu Teegetränken. „Günstig gegen Infektionen der Luftwege wirken etwa Thymian, Sonnenhut, Fenchel oder Eukalyptus”, weiß sie genau. Je nach Stadium setzt sie außerdem auf schweißtreibende „Teedrogen” wie Holunderblüten oder Lindenblüten, bei Husten mit zähem Schleim greift sie zu Efeuextrakt. „Als Tee ist der Efeu nicht so effizient”, ist der Professorin bewusst. Außerdem gilt für zahlreiche Heilpflanzen, dass sie  für den Menschen nicht nur Positives bereit halten. Wie schon Paracelsus gesagt haben soll: „Die Dosis macht das Gift.”

Pharmakognosie ist die Lehre von Heilmitteln tierischer oder pflanzlicher Herkunft. Sie ist ein Teilgebiet der pharmazeutischen Biologie. Naturstoffe sind meist Inhaltsstoffe von höheren Pflanzen. Außerdem können sie von Bakterien hergestellt werden.

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