Thüringer Textilgeschichte

Obwohl die Textilfabrik in Thüringen vor einem halben Jahrhundert geschlossen wurde, ist sie in den Köpfen vieler Menschen in der Region noch sehr präsent. Kaum ein Thüringer, Ludescher oder Bludescher, der in seinem Stammbaum nicht einen Ahnen vorweisen kann, der sich einst in der Fabrik verdingte. Vor allem um den Firmengründer John Douglass und seine Nachkommen ranken sich bis heute vielerlei Geschichten. Weniger bekannt ist das Wirken von Ing. Rudolf Kastner, der das Unternehmen von Mai 1909 bis zur Schließung 1967 durch äußerst schwierige Zeiten führte. Gemeinsam mit dem Verein Villa Falkenhorst ist Historikerin Mag. Barbara Motter nun seinen Spuren nachgegangen. 

Die Fabriksgebäude (Foto oben aus dem Jahr 1984) dominierten viele Jahre lang das Ortsbild, sie wurden inzwischen in eine Wohnanlage umgebaut. 1959 feierte die Belegschaft das 50jährige Jubiläum der Kastner´schen Textilfabrik (Foto re.). In der neuen Weberei wurden vor allem Windeln, Geschirrtücher und Taschentücher erzeugt. Rudolf Kastner und seine junge Familie 1919 vor der Villa Falkenhorst. (unterstes Bild).
Die Fabriksgebäude (Foto oben aus dem Jahr 1984) dominierten viele Jahre lang das Ortsbild, sie wurden inzwischen in eine Wohnanlage umgebaut. 1959 feierte die Belegschaft das 50jährige Jubiläum der Kastner´schen Textilfabrik (Foto re.). In der neuen Weberei wurden vor allem Windeln, Geschirrtücher und Taschentücher erzeugt. Rudolf Kastner und seine junge Familie 1919 vor der Villa Falkenhorst. (unterstes Bild).

„Rudolf Kastner war unter den Vorarlberger Industriellen in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall”, erklärt Mag. Barbara Motter. Sie muss es wissen, beschäftigt sie sich doch seit einiger Zeit intensiv mit der Vorarlberger Industriegeschichte. Er hatte keine verwandtschaftlichen Verbindungen und anfangs auch kein Netzwerk im Land. Sein Lebensstil war zwar standesbewusst, aber im Vergleich zu anderen Industriellenfamilien bescheiden. „Trotzdem war er eine Art Übervater für seine Mitarbeiter.” Diesen Schluss zog die Historikerin aus vielen Gesprächen mit Zeitzeugen, Nachkommen und aus dem Studium der noch vorhandenen Unterlagen. Schriftlich ist vom Firmennachlass nicht mehr viel vorhanden beziehungsweise derzeit nicht auffindbar. „Leider geht bei Fabriksschließungen oft viel verloren, weil sich niemand mehr um die Inhalte der Büros und Ablagen kümmert. Ich könnte mir vorstellen, dass da noch irgendwo auf einem Wiener Dachboden Firmenbücher herumliegen.” Die hätten die Recherche um einiges vereinfacht. Mit Unterstützung des Projekt-Initiators, Altbürgermeister Helmut Gerster, hat Barbara Motter aber auch ohne offiziellen Nachlass einiges in Erfahrung und in Buchform gebracht. Im Auftrag des Vereins Villa Falkenhorst hat sie Erinnerungsstücke gesammelt, in Archiven gestöbert, Zeitzeugen interviewt.

Freuen sich über das gemeinsame Werk: Der Obmann des Vereins Villa Falkenhorst, Thomas Bitsche, Verleger Christof Thöny mit Annamirl, Autorin Barbara Motter, Monika und Kurt Dittrich, Helga Färber-Dittrich, Falkenhorst-GF Markus Winsauer-Winkler und der Thüringer Gemeinde-Archivar Alt-Bgm. Helmut Gerster.
Freuen sich über das gemeinsame Werk: Der Obmann des Vereins Villa Falkenhorst, Thomas Bitsche, Verleger Christof Thöny mit Annamirl, Autorin Barbara Motter, Monika und Kurt Dittrich, Helga Färber-Dittrich, Falkenhorst-GF Markus Winsauer-Winkler und der Thüringer Gemeinde-Archivar Alt-Bgm. Helmut Gerster.

Die Villa Falkenhorst war einst der Wohnsitz der Fabriksbesitzer, heute ist sie im Besitz der Gemeinde Thüringen. Der Verein Villa Falkenhorst „bespielt” sie mit Ausstellungen, Konzerten und anderen (kulturellen) Events. In der Villa wird aber auch heute noch der ehemaligen Bewohner gedacht. Eine Dauerausstellung würdigt etwa die Fabriksgründer, die Familie Douglass. Als sich die schottische Familie nach dem tragischen Unfall von John Sholto Douglass wieder aus Vorarlberg zurückzog, wurde die Fabrik 1904 an einen der leitenden Angestellten, Heinrich Wintsch Junior, verkauft, welcher den Besitz bereits fünf Jahre später an Ing. Rudolf Kastner veräußerte. Die Villa erwarb Rudolf Kastner direkt vom Enkel des Firmengründers, John Douglass, und zog dort mit seiner jungen Frau ein. Stefanie Münzberg war die Schwester eines Studienkollegen von Rudolf Kastner, die Enkelin des „Spinnereikönigs von Böhmen”, der Mitte des 19. Jahrhunderts rund 800 Arbeiterinnen und Arbeiter in seinen Baumwollspinnereien beschäftigte.

Rudolf Kastner selbst stammte nicht aus einer Textil-Familie. Sein Vater war ursprünglich Buchhalter, bevor er mit 24 Jah­ren – er hatte nach dem Tod seiner Großmutter etwas Geld geerbt – gemeinsam mit seinem Freund Hermann Öhler die Kurzwarenhandlung Kastner & Öhler gründete. Er heiratete die Schwester von Hermann Öhler, Julie, und führte von Wien aus die Geschäfte des bald innerhalb der ganzen Donaumonarchie erfolgreichen Handelshauses. Während seine fünf Brüder allesamt bei Kastner & Öhler einstiegen, besuchte Rudolf Kastner die Gewerbeschule in Wien und danach das renommierte Technikum für Textilberufe in Reutlingen. Außerdem hat er sich bei einem Praktikum in einer Rot­­fär­­­­­­­­­­be­rei in Mähren auf seine Tätigkeit als Textilunternehmer vorbereitet. Er war gerade einmal 25 Jahre alt, als er gleich nach der Hochzeit nach Thüringen kam, die Fabrik übernahm und eine Familie gründete. Sohn Harry schilderte die Jahre in der Villa Falkenhorst später als „eine besonnte Zeit”. Familienfotos zeigen die drei Kinder beim Baden im kleinen Teich im Garten, beim Wandern, Rodeln und beim Sport. Obwohl er 1916 als Reserveoffizier in den 1. Weltkrieg einrücken musste, führte Rudolf Kastner die Textilfabrik in dieser Zeit weiter. Da keine Baumwolle mehr importiert werden konnte, stellte er unter anderem auf die Produktion von Papiergarn um, in der Fabriksküche wurden die hungernden Arbeiter und ihre Familien in diesen schlimmen Jahren verköstigt.

Noch vor Kriegsende verlegte die Familie Kastner zwar ihren Lebensmittelpunkt nach Innsbruck, freie Tage verbrachte sie aber regelmäßig in der Villa Falkenhorst. Rudolf Kastner pendelte nach Thüringen, um in seiner Fabrik nach dem Rechten zu sehen. Noch 1928 besaß er als einziger Thüringer ein Auto. Erst als Tochter Gladys mit ihrem Mann Josef Dittrich 1933 dort einzog, war die Villa Falkenhorst wieder dauerhaft bewohnt, deren fünf Kinder waren ganz selbstverständlich Teil der Dorfgemeinschaft. Als die Nazis an die Macht kamen, musste der Dollfuß-Anhänger Rudolf Kastner, der laut NS-Doktrin außerdem Halbjude war, untertauchen. Er lebte von dieser Zeit an in Wien, verschwand aus den Firmenbüchern, die Geschäfte wurden offiziell von seinem Schwiegersohn geführt. „Gleich nach dem Krieg kehrte Rudolf Kastner in die Geschäftsleitung zurück”, berichtet Barbara Motter. Er hat für Thüringen und die Region viel bewirkt, ermöglichte beispielsweise durch einen Grundtausch den Bau der Kastner-Siedlungen und förderte in den 1930er-Jahren die Einrichtung des ersten Kindergartens.

„Wir wollten ein kurzweiliges Erinnerungsbuch schaffen, in dem nicht nur direkt Betroffene interessante Dinge erfahren”, sind sich die Autorin, der Herausgeber Verein Villa Falkenhorst und Christof Thöny vom Lorenzi Verlag einig. Das Buch ist um 14 Euro im Buchhandel, in der Villa Falkenhorst sowie beim Lorenzi Verlag in Bludenz erhältlich. Das Forschungs- und Buch-Projekt wurde auch vom Land Vorarlberg sowie den Blumenegg-Gemeinden unterstützt.

Die Nachfahren von Rudolf Kastner, Helga Färber-Dittrich, Monika und Kurt Dittrich öffneten ihre Familienalben, gaben Barbara Motter und Gemeindearchivar Alt-Bgm. Helmut Gerster gerne Auskunft.
Die Nachfahren von Rudolf Kastner, Helga Färber-Dittrich, Monika und Kurt Dittrich öffneten ihre Familienalben, gaben Barbara Motter und Gemeindearchivar Alt-Bgm. Helmut Gerster gerne Auskunft.

KASTNER-AUSSTELLUNG

Parallel zur Buchpräsentation wird in der Villa-Falkenhorst ein „Kastner-Zimmer” eingerichtet, in dem verschiedenste Erinnerungsstücke präsentiert werden. Die Ausstellung kann bis Mitte Jänner jeweils an den Sonntagen von 15 bis 17 Uhr sowie während Veranstaltungen besichtigt werden. Weitere Infos gibt es unter
www.villa-falkenhorst.at
www.lorenzi-verlag.at
ab 23.9.: www.kastner-thueringen.at


TERMINE

  • Buchpräsentation am Samstag, 23. September ab 18.00 Uhr in der Villa Falkenhorst.
  • Erzählcafé zur Ära Kastner am Sonntag, 22. Oktober ab 15.00 Uhr in der Villa Falkenhorst.
  • Vortrag zur Sozialgeschichte des Walgaus und Vorarlbergs in der Zwischenkriegszeit am Donnerstag, 9. November (in Kooperation mit der Volkshochschule) ab 19.30 Uhr in der Villa Falkenhorst.

    FOTOS: GEMEINDEARCHIV THÜRINGEN, FAM. DITTRICH, TM-Hechenberger

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