Als Schafhirtin in den Westfjorden

Ihr „work-away” hielt für Anja-Maria Schaflinger einige Herausforderungen bereit. Während ihre Klassenkameraden und Freunde nach der Matura eher große Metropolen und südliche Länder anpeilten, war für sie seit Jahren klar: „Ich gehe für ein paar Monate nach Island.”

FOTOS: PRIVAT

In Vorarlberg ist Island vor allem dank eines Vulkans mit dem unaussprechlichen Namen Eyjafjallajökull ins Gespräch geraten, als dieser vor zehn Jahren mit seiner Aschewolke den Flugverkehr in weiten Teilen Europas zum Erliegen brachte. Damals wurde auch Anja-Maria Schaflinger zum ersten Mal auf den zweitgrößten Inselstaat der Welt aufmerksam. Als sie zwei Jahre später gemeinsam mit ihren Eltern im Campingmobil durch Island tourte, hinterließen jedoch die imposanten Fjorde, die weite Landschaft und vor allem die Herzlichkeit der Bewohner Islands einen weit prägenderen Eindruck auf die damals Elfjährige. Die Mythen und Sagengestalten, auf die sie an jeder Ecke stieß, zogen sie ebenfalls in ihren Bann. Sie beschloss schon damals, dass sie wiederkommen würde. Eine vorwissenschaftliche Maturaarbeit, für die sie sich intensiv mit der nordischen Mythologie und der Sagenwelt Islands beschäftigte, war nur ein weiterer Schritt hin zur Verwirklichung ihres Kindheitstraums. 

Nach den acht Jahren am Bludenzer Gymnasium wollte Anja-Maria Schaflinger eine Pause von der Schulbank und stattdessen körperlich arbeiten. Auf der Internet-Plattform der Organisation „workaway” meldete sie sich auf die etwas kryptische Stellenbeschreibung „walking in the mountains”. 

„Ich hatte nicht einmal eine richtige Adresse”, erinnert sich die heute 20-Jährige. Trotzdem setzte sie sich am 31. August 2019 ins Flugzeug. „In den ersten Tagen habe ich mich gefragt, was ich hier eigentlich mache”, erinnert sie sich. Sie fühlte sich fremd und verloren. Doch schon bald habe sie die lockere Lebenseinstellung der Isländer, bei der etwa Zeit keinerlei Rolle spielt, schätzen gelernt und teilweise sogar übernommen. 

Sie erlebte die Isländer als offen, gastfreundlich, entspannt und humorvoll. In der Familie ihres ersten Arbeitgebers fühlte sie sich von Anfang an voll aufgenommen und entdeckte sogar einige Gemeinsamkeiten mit dem Leben daheim.

„In Island kennt jeder jeden – wie bei uns”, lacht Anja-Maria Schaflinger. Doch während sich im Ländle rund 400.000 Menschen auf  einer Fläche von 2600 Quadratkilometern drängen, verteilen sich die knapp 395.000 Isländer auf einen fast 40-mal so großen, unabhängigen Staat. Schließlich führt Island die Statistik der am dünnsten besiedelten Länder der Erde an.

Diese menschenleere Weite sollte die junge Frau recht eindrucksvoll kennenlernen. Denn während sie die „mountains” der isländischen Westfjorde in ihrer Heimat kaum als Hügel wahrgenommen hätte – das „walking” in ihrer Stellenbeschreibung entpuppte sich als stundenlanges Marschieren über endlose Ebenen, das Walkie-Talkie stets auf Empfang. Ihre Aufgabe und die der anderen Mitarbeiter der Farm war es, die rund 2400 Schafe des Betriebs zusammenzutreiben, die den ganzen Sommer über in der kargen Landschaft geweidet hatten und dabei weit herumgekommen waren. Die Hirten folgten den Schafpfaden, denn richtige Wege führten kaum einmal durch das Gelände auf der nordwestlich gelegenen Halbinsel. 

„Das erste Mal war ich komplett überfordert”, berichtet Anja-Maria Schaflinger von zögerlichen Annäherungsversuchen. Ehe sie sich versah, waren ihr vier der Schafe, auf die sie aufpassen sollte, ausgebüxt. „Hammel und Schafe können echt hoch springen”, stellte die Vorarlbergerin zu ihrer Überraschung fest. Als es ihr schlussendlich aber gelang, alle Tiere auch wieder einzufangen, hatte sie sich den Respekt der Hirten-Truppe verdient. „Wir haben alle hart gearbeitet, ich habe aber immer auch die Wertschätzung der Gastfamilie gespürt”, erinnert sich Anja-Maria Schaflinger gerne. Als das Smala – also das Einsammeln der Schafe – nach etwa sieben Wochen erledigt und alle Tiere im Stall untergebracht waren, konnte der Winter kommen. Doch zuvor feierten alle gemeinsam ein großes Fest mit Fleischsuppe und Kuchen. 

„Kulinarisch schwieriger” Festschmaus 

Tolle Stimmung herrschte auch bei einem anderen traditionellen Anlass – Thorrablot – , zu welchem sich Alt und Jung Ende Jänner im Gemeindesaal trafen. Anja-Maria Schaflinger arbeitete inzwischen bei einem Pferdezuchtbetrieb in einem kleinen Ort im Süden. „Das Fest dauerte vom Nachmittag bis vier Uhr in der Früh”, erzählt sie von lustigen Aufführungen und Sketches, bei denen die Mitbürger auf die Schippe genommen wurden. Die genauen Inhalte konnte sie meist nur erraten, obwohl sie inzwischen einige Brocken Isländisch verstand. Vor allem aber hat sie dieses Fest als „kulinarisch schwierig” abgespeichert – bogen sich die Tische doch unter Schafsköpfen, eingelegten Hammelhoden und fermentiertem Haifisch, der ein halbes Jahr lang in der Erde vergraben gereift war…

Etwas Mühe bereitete der Vorarlbergerin außerdem, dass die Sonne in Island im November und Dezember nach vier Stunden bereits wieder untergeht. Das helle Tageslicht fehlte ihr sehr. Doch obwohl sie auf einem Flecken Erde gelandet war, auf dem nicht viel los ist, langweilig war ihr in diesen Monaten nie. „Die Menschen werkeln viel an den langen Abenden, sie erzählen sich Geschichten, stricken, lesen, spielen Fußball, machen und hören Musik”. Anja-Maria Schaflinger liebt die Musik des nordischen Inselstaates. So war es für sie denn auch ein besonderes 

Erlebnis, die Sängerin Eivør Pálsdóttir in Reykjavík live auf der Bühne zu erleben. Sie war dazu mit „workaway”-Freunden in die Hauptstadt gefahren. „Ich hatte die  Sängerin zuvor schon einmal in Innsbruck getroffen, und sie hat sich an mich erinnert”, berichtet sie voller Stolz.

Die Ludescherin war bis zu ihrer Rückkehr am 24. Februar bei drei verschiedenen „workaway”-Stellen gegen Kost und Logis im Einsatz. Am eindrucksvollsten hat sie aber die Zeit an den Westfjorden in Erinnerung, wo sie auf der Suche nach den Schafen bei Wind und Wetter stundenlang durch die karge Landschaft marschierte. „Da lernt man sich selbst kennen.”

Eigentlich wollte sie die Zeit vor dem Studium nutzen, um noch eine ganz andere Ecke der Welt zu erkunden. Die Reise nach Südamerika musste sich Anja-Maria Schaflinger im Frühjahr wegen der Corona-Pandemie aus dem Kopf schlagen. Umso mehr freut sie sich, dass sie zumindest ihren Kindheitstraum verwirklichen konnte und die Herausforderung Island so gut gepackt hat.

Vorerst konzentriert sie sich jetzt auf das Biologie- und Deutsch-Studium in Wien. Wenn sie das Fernweh packt, greift sie zum Fotobuch, das sie gemeinsam mit „work­away”-Freunden für ihre Lieblings-Gastfamilie zusammengestellt hat, und liest in den Gedichten, zu denen sie an langen Winterabenden in Island inspiriert wurde.

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ALS AURORA MIT UNS TANZTE

Damals waren wir auf einer Party,
und die isländischen Frauen
riefen dem Tanzlehrer etwas zu.

Wir hatten Wanderschuhe und wasser-dichte Kleidung gegen Stilettos und
enge Kleidchen getauscht.
Liefen nicht mehr über Isländisch
Moos und Vulkangestein, sondern
tanzten Salsa im Gleichschritt.

Die Discokugel warf bunte Flecken
an die Wände.
Am Tag waren es noch die weißen Wollbällchen, die ich in der wilden Landschaft verfolgt hatte.

Vor mir hatte ich eine Gruppe
kreischender Isländerinnen
und nicht zwanzig Schafe,
denen ich panisch wie ein Hund hinterherjagte.
Dann schrie ich mit ihnen,
gleich wie ich meinen Mund aufriss,
sobald ich jeden Morgen aufwachte
und aus dem Fenster sah.
(Der Blick auf das Meer und der
Gletscher raubten mir jedes Mal
aufs Neue meinen Atem.)

Schließlich stolperten wir lachend
auf die Straße und
reckten die Köpfe hoch.
Grüne und weiße Lichter tanzten
über uns, als ob ein stürmischer Wind

durch endlose Vorhänge,
die vom Himmel hingen, jagte.

– Jedes Ende meiner
Nervenbahnen war glückselig.

 

In diesem Gedicht hat Anja-Maria Schaflinger ihre Erlebnisse beim Krúttmagakvöld verarbeitet. Dieses traditionelle Fest feiertdie starken isländischen Frauen.Männer sind davon ausgeschlossen.

 

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