Lehmbaumeister Kleiber

Wer ein Vogelhäuschen im Garten aufstellt, kann dort mit etwas Glück einen der begabtesten Kletterkünstler der Vogelwelt beobachten. Der Kleiber ist zudem ein eifriger Handwerker. Sein bevorzugter Baustoff ist Lehm.

FOTOS: GERALD SUTTER, TM-HECHENBERGER

Ein orange-graublau gestreiftes Federknäuel, das scheinbar mühelos den Baumstamm hoch und dann kopfüber wieder nach unten läuft? – Man braucht kein Ornithologie-Diplom, um diesen bunten Gesellen zu identifizieren. Denn der Kleiber hat als einziger Vertreter der Vogelwelt eine Gangart entwickelt, die es ihm erlaubt, während des Kletterns senkrecht nach unten zu spähen, um so an Leckerbissen zu gelangen, die sich hinter einer nach oben abstehenden Rinde verstecken. Diese Nahrungsquelle gehört ihm damit exklusiv. Obwohl er sonst einige Eigenarten mit den Spechten teilt und aufgrund seiner handlichen Größe auch Spechtmeise genannt wird, muss er sich dabei nicht mit dem Schwanz abstützen, und er ist zudem in der Lage, an der Unterseite von Ästen entlangzulaufen. 

Weibchen und Männchen dieser Vogelart
unterscheiden sich kaum.

Dieses Talent nutzt er ausgiebig. Der kleine Vogel ist unermüdlich in Bewegung. Während der kalten Jahreszeit sammelt er Samen und Nüsse – vor allem Bucheckern gehören zu seinen Lieblingsspeisen –, klopft sie mit dem Schnabel in Rindenspalten und deckt sie dann mit geeignetem Material ab, um sie vor hungrigen Artgenossen zu verstecken. Er selbst findet die angelegte Vorratskammer problemlos wieder und kann harte Schalen mühelos mit seinem Schnabel knacken, wenn die Samen und Nüsse derart gut fixiert sind. In der warmen Jahreszeit zieht er allerdings tierische Nahrung vor. Alles, was sechs bis acht Beine hat, ist nicht vor ihm sicher.

Hektischer Gast am Futterhäuschen

In luftigen Höhen fühlt sich das Klettertalent besonders wohl. „Bei uns kommt der Kleiber vor allem in Mischwäldern mit großen, alten Buchen, auf Obstwiesen in Parks und auch in Gärten vor”, weiß Johanna Kronberger, „in der Regel bleibt er ein Leben lang am gleichen Standort.” Jetzt im Winter beobachtet die Biologin und Obfrau von BirdLife Vorarlberg den kleinen Singvogel oft an Futterstellen in größeren Gärten. Dort weiß er sich durchaus zu behaupten. Mit lauten Rufen vertreibt er die Artgenossen, grabscht sich einige Leckerbissen und ist auch schon wieder dahin. 

Ein Kleiberpaar findet sich meist schon im Spätsommer und verbringt den Winter dann gemeinsam. Je nach Witterung macht es sich bereits Ende Februar auf die Suche nach einer geeigneten Bruthöhle. Die liegt meist in luftigen Höhen zehn bis 15 Meter über dem Boden. 

Umbau statt Neubau

Die Bauarbeiten starten dann rund einen Monat später. Der Schnabel des Kleibers ist viel zu schwach, um einen Baumstamm auszuhöhlen, deshalb zieht der kleine Sänger gerne in natürliche Baumhöhlen oder in verlassene Domizile anderer Vögel ein. Als Nachmieter verschiedener Spechtarten wirft er sich dann allerdings ordentlich ins Zeug. Denn der Kleiber bevorzugt ein großes Zuhause, das vom Weibchen nach allen Regeln der Kunst mit dürrem Laub sowie kleinen Holz- und Rindenstückchen ausgepolstert wird, damit der Nachwuchs immer schön auf dem Trockenen gebettet ist. 

Besonders beliebt ist eine Möblierung aus Spiegelrinde – das sind die obersten zarten Rindenschuppen der Rotföhre. Unermüdlich schafft das Männchen Material für die Innenausstattung heran. „Untersuchungen haben ergeben, dass die Polsterung einer Kleiberhöhle aus rund 3300 bis 7000 Einzelteilen besteht”, zollt Johanna Kronberger dem Fleiß des kleinen Vogels Respekt. Schließlich muss er genauso oft ausfliegen, um all dies heranzuschaffen. Manchmal sogar deutlich mehr. Denn trifft der Hausherr den Geschmack seiner Liebsten nicht, fliegt alles  wieder raus. Das Weibchen hat bei der Ausgestaltung eindeutig das Sagen. Es schichtet die Rindenstückchen sorgfältig auf, indem es sich gleichmäßig um die eigene Körperachse dreht. 

Lehmbau an der Eingangspforte

Beim Fassadenbau zeigt der kleine Vogel besonderes Talent. Um Eier und Jungtiere vor Nesträubern zu schützen und sicherzustellen, dass andere Wohnungssuchende nicht auf die Idee kommen, Besitzansprüche zu stellen, wird das Einflugloch auf eine Größe von 29 bis 32 Millimeter Durchmesser verkleinert, sodass das Kleiberpaar selbst gerade noch durchschlüpfen kann. Dafür nutzt der gefiederte Handwerker feuchten Lehm, der mit dem Schnabel sorgfältig festgeklopft wird und an der Luft aushärtet. Da der Kleiber – wie gesagt – große Höhlen bevorzugt, muss er unzählige Male fliegen, um im Extremfall bis zu eineinhalb Kilo Lehm in die Öffnung zu stopfen. Schließlich kann er mit seinem Schnabel nur wenig mehr als ein Gramm Baumaterial auf einmal transportieren. 

Das Einflugloch der Kleiberhöhle wird mit feuchtem Lehm genau an die Körpergröße der Bewohner angepasst.

Das Kleibermännchen behält diese Eingangspforte genau im Auge und flickt laufend allfällige Schwachstellen – nicht nur bei Regenwetter. Scharfe Ecken im Inneren der Höhle werden ebenfalls mit Lehm entschärft. Diese Bauarbeiten der Kleiber-Eltern halten auch während der gesamten Brutzeit an. 

Dabei gibt es genug anderes zu tun. Denn die Jungvögel, die Mitte April aus den fünf bis acht Eiern schlüpfen, die das Weibchen rund zwei Wochen lang bebrütet hat, sind ständig hungrig. Bei fünfzehn Futterflügen pro Stunde bleibt den Eltern wenig Zeit, um auszuruhen. Am laufenden Band schaffen sie möglichst eiweißreiches Futter heran. Unermüdlich stochern sie in den Rindenritzen nach Raupen, Spinnen und anderem Kleingetier. Schließlich sollen die blinden, federlosen Winzlinge schon einen Monat später in der Lage sein, sich ohne die Eltern durchzuschlagen. Die Jungvögel verabschieden sich bereits im Juni in die Selbstständigkeit und sind noch vor dem ersten Geburtstag geschlechtsreif. Es gilt die Zeit zu nutzen. Denn die Lebenserwartung des kleinen Vogels liegt bei maximal sieben Jahren. Er wird sich also rasch einen geeigneten Partner und ein eigenes Revier suchen. Die Nachkommen ziehen allerdings selten mehr als ein paar Kilometer vom Elternhaus weg. 

Nisthilfen für den Kleiber

Wer den Kleiber im Garten ansiedeln möchte, kann ihm Nisthilfen zur Verfügung stellen. „Allerdings macht dies nur Sinn, wenn es in der Umgebung auch ein entsprechendes Nahrungsangebot gibt”, erklärt Biologin Johanna Kronberger. Sie appelliert einmal mehr dafür, Gärten nicht allzu sehr aufzuräumen. „Wer heimische Beerensträucher pflanzt und die Samenstände von Stauden, Kräutern und Sträuchern im Herbst stehen sowie Laub- und Altholzhaufen liegen lässt, sorgt automatisch dafür, dass viele Vögel ihren Hunger auch in der kalten Jahreszeit stillen können.” 

Außerdem weiß der Kleiber es zu schätzen, wenn große, alte Bäume weiter wachsen dürfen. Da diese Vogelart ohnehin auf vorhandene Quartiere angewiesen ist, wird sie einen Nistkasten, der so angebracht ist, dass er vor Katzen und allzu viel Sonne geschützt ist, gerne annehmen. Für welches Modell man sich entscheidet, ist nicht so wichtig, da der Kleiber es ja ohnehin genau nach seinen Vorlieben „umbaut”. 

Kleiber (Sitta europaea)

Weltweit gibt es 22 Arten des Kleibers. Der nur 12 bis 15 Zentimeter große Vogel – von der Schnabelspitze bis zum Schwanzende gemessen – wird auch Spechtmeise genannt, weil seine Lebensweise diesen Artgenossen ähnelt. Er ist aber mit keinem der beiden näher verwandt. Sein deutscher Name leitet sich vom Mittelhochdeutschen ab und gibt auch einen Hinweis auf eine seiner wichtigsten Eigenarten: „Kleiben” bedeutet so viel wie kleben, schmieren, verstreichen, befestigen. Handwerker, die Lehmwände errichteten, wurden im Hochmittelalter ebenfalls „Kleiber” genannt.

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